[20] Variatio, pt. 2

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Kasimir traute seinen Augen nicht. So schäbig die Musikschule von außen wirkte, im Inneren entfaltete sich ein Kunstwerk. Über eine himmelblaue Tapete tanzten Wolken in Form von Pauken und Harfen; auf erdfarbenem Grund erhob sich ein Felsklavier aus dem Boden. Eine perlmuttschimmernde Tuba wand sich wie eine Seeschnecke auf dem Meeresgrund. Der Eingangsbereich war ein Gemälde aus Natur, Kunst und Musik.

»Hast du das gemalt ...?« Kasimir konnte den Blick nicht von den Wandfarbeninstrumenten lösen. Sie waren perfekt proportioniert, als hätte sich ein professioneller Künstler daran versucht.

Elias stieg mit Pinsel und Tuschpalette ausstaffiert auf eine Trittleiter und begutachtete seinen aktuellen Arbeitsstand; eine Querflöte, die wie eine Wildrose aus dem bemoosten Waldboden wuchs. »Ich habe Elise früher oft zu ihren Vorspielen begleitet und in der Wartezeit bis zu ihrem Auftritt die Instrumente der anderen Musiker skizziert.«

»Oh, okay ... müssen viele Vorspiele gewesen sein.«

»Unzählige.«

Der Stolz auf seine Schwester wärmte seine Stimme, als Elias der Flötenrose mit feinen Linien Details verlieh. Anscheinend stand er ihr künstlerisch in nichts nach, seine Finger schwebten über sein Werk. Während er ihm beim Malen zusah, wanderte ein samtiges Kribbeln durch Kasimirs Bauch. Kaum zu glauben, dass diesen starken Händen so sanfte Berührungen innewohnten.

»Willst du nicht zu deinem Freund?«

Elias sprach, ohne den Pinsel von der Tapete abzusetzen. Kasimir stellte verschreckt fest, dass er ihn sekundenlang angestarrt hatte.

»J-ja, ist er, ähm ...« Er räusperte sich, nickte zu einer der Türen. »Dort drin?«

»Ja. Wahrscheinlich machen sie gerade Pause. Geh' ruhig rein.«

»Okay ...«

Kasimir trat zögerlich vor die Tür und legte die Hand auf die Klinke. Die Nervosität floss zurück in sein Herz, verdrängte Elias' Ruhe aus seinem Kopf. Er durfte keinen Rückzieher machen. Er wollte, musste sich bei Leonhard entschuldigen ...

Plötzlich klang ein scharf angeschlagener Akkord durch die geschlossene Tür. Wie ein Blitz zischte er durch Kasimirs Körper, gefolgt vom Donner einer Melodie, die seinen Atem stocken ließ.

Weil er sie kannte. Besser als jedes Musikstück der Welt.

»Ach, das wieder.« Elias verzierte konzentriert das Mundstück der Flöte. »Sie spielen dieses Lied schon den ganzen Nachmittag. Du hast es geschrieben, stimmt's?«

Kasimir nickte. Er hatte geglaubt, Elise würde Leonhard technische Kniffe und Übungen für eine Hand zeigen. Stattdessen widmeten sie sich dem Titel, den Kasimir seit seinem Geburtstag in einen Ring verewigt am Finger trug.

»Elise liebt ›All Eyes On Us‹.« Elias legte Pinsel und Tuschpalette zur Seite und stieg die Leiter hinab, um neben Kasimir das Ohr an die Tür zu lehnen. »Als Leonhard vorhin den Auftakt gespielt hat, ist sie direkt eingestiegen.«

»Er hat angefangen?«, wisperte Kasimir. Leonhard machte seit Wochen einen Bogen ums Klavier, vermied es, sich gemeinsam mit ihm an die Tasten zu setzen. Warum zeigte er vor Elise keine Scheu?

»Ja.« Elias lauschte einen Moment, schloss dabei die Lider. »Sie hat eine Auge für Talent. Wahrscheinlich hat sie in der Probestunde gemerkt, was in ihm steckt. Sie harmonieren gut, findest du nicht?«

Kasimir verkrampfte die Finger um den Riemen seiner Tasche. ›Harmonieren‹ war das falsche Wort. Sie verschmolzen. Spielten ein Stück, das für eine Person konzipiert war, als wäre es ein Duett. Als wäre es dafür geschaffen, von Leonhards rechter und Elises linker Hand in Töne gefasst zu werden.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt