[29] Fuga, pt. 1

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Es war so weit. Genau drei Monate, nachdem Kasimir mit der Pianovision in Kontakt gekommen war, begann der Endspurt zur großen Show.

Heute erfuhr er, mit wem er sich auf dem Vorentscheid messen musste.

»Kann es sein, dass du nervös bist, Bruderherz? Von deinem Gewusel wird einem ja schwindelig.«

Cecilies Stimme drang aus dem Lautsprecher des Tablets, das Kasimir auf seiner endlosen Reise durchs Wohnzimmer in Händen hielt. Ständig kollidierte er um Haaresbreite mit der Couch oder dem Kaninchenkäfig, während er sich auf den Videocall zu konzentrieren versuchte. Im Sitzen wäre es leichter, aber das ließ sein Adrenalinpegel nicht zu.

»Warum so gestresst, Großer?« Auch Thomas drängte sich mit seinem Sohn auf dem Arm vor die Kamera. »Du weißt doch, dass du qualifiziert bist.«

»Ja, ja ...« Kasimir fluchte leise, als er über seinen Klamottenhümpel neben der Couch stolperte. »Aber es ist wichtig, gegen wen ich spiele.«

»Ach, Quark. Mit deinem Zyniker-Dingslied steckst du jeden in die Tasche.«

»Cynosure«, korrigierte Kasimir und verzog die Lippen, als Thomas breit grinsend mit den Achseln zuckte. Als Außenstehender war es leicht, das Event kleinzureden. Für Kasimir stand mit diesem Auftritt alles auf dem Spiel.

»Es tut mir so leid, dass wir nicht dabei sein können«, lamentierte Cecilie nun zum fünften Mal seit Beginn des Videocalls und ließ den Kopf hängen, sodass ihr Gesicht vollständig hinter ihrem herbstlaubroten Haarschopf verschwand. Als sie wieder aufsah, lag ein glitzernder Film über ihren grauen Augen. »Wenn ich gewusst hätte, dass der Termin ausgerechnet auf dieses Wochenende fällt ...«

»... hättest du verhütet?«, vollendete Kasimir und grinste, als das Bedauern in den Augen seiner Schwester in Gereiztheit umschlug. Thomas entlockte sein Kommentar ein herzliches Lachen.

»Tja, dafür, dass du dich zierst, muss deine Schwester doppelt liefern ... oder dreifach.« Er pikste Cecilie neckisch mit dem Zeigefinger in den hochschwangeren Bauch, dann grinste er breit in die Kamera. »Aber du verzichtest sicher gern auf unsere Anwesenheit, wenn du dafür 'ne Hütte im Dresdener Zentrum für lau bekommst, stimmt's?«

»Tommy, setz' ihn nicht unter Druck«, protestierte Cecilie. »Er steckt noch mitten im Studium. Außerdem hat Leo einen festen Job in Berlin.«

»Na und? Als ob er die paar Klicks nicht auch im Homeoffice erledigen kann. Außerdem dauert's noch Monate, bis das Haus bezugsfertig ist. Bis dahin wird dein Bonzenbruder wohl seinen Doktorhut haben.«

»Ich promoviere nicht, Thomas ...«

»Dann eben Staatsexamen, was weiß ich. Damit wirst du dir eh nie 'ne Immobilie leisten können, also kannst du auch in die Wohnung ziehen.«

Kasimir blieb seufzend vor dem Fenster stehen und sah hinaus auf den Sportplatz. Es war ruhig, grün. Viel zu idyllisch für die Hauptstadt, die er seit über drei Jahren sein Zuhause nannte. Berlin hatte ihm emotional alles abverlangt, ihm häufig die Luft zum Atmen genommen. Er erwischte sich oft beim Gedanken, dem Großstadtstress den Rücken zu kehren, um wieder näher bei seiner Familie zu sein. Besonders jetzt, da Cecilie und Thomas ihr drittes Kind erwarteten, wollte er seiner Verantwortung als Onkel gerecht werden. Allerdings wurde die Perspektive, wieder in die Heimat zu ziehen, derzeit von anderen Großereignissen überschattet. Und die beschäftigten ihn stärker als die Aussicht, irgendwann wieder täglich auf seinem alten Blüthner zu spielen.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt