[38] Passacaglia, pt. 3

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Da waren Stimmen. Undeutlich, wispernd.

Leo blinzelte, stöhnte leicht unter dem blendenden Licht und drückte die Lider wieder zusammen. Das leise Gespräch im Hintergrund verstummte, kurz darauf spürte er eine Berührung an der Wange. Sie war warm, weich; so einfühlsam, dass er sich darin geborgen fühlte. Und als er langsam die Augen aufschlug, wusste er auch, warum.

»Hey ...« Kasimirs Stimme war kaum ein Flüstern, sein Daumen wanderte über Leos Wangenknochen. Leo schmiegte sich in seine Hand. Allerdings hielt ihn Elises Stimme davon ab, zurück in seine Traumwelt zu gleiten.

»Bist du wach?«, sagte sie, trat unmittelbar vor sein Bett. Ihre Worte durchdrangen seine Schläfrigkeit, säten Verwirrung. Wann war er ins Bett gegangen? Wieso hatte er sich überhaupt hingelegt?

Er versuchte, sich aufzurichten, ächzte jedoch unter einem stechenden Schmerz, der ihm durch den Schädel schoss. Seine Stirn wummerte, als hätte ihm jemand einen Baseballschläger übergezogen.

Als er zurück in sein Kissen sank, beugte sich Kasimir über ihn und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über seine linke Augenbraue. Leo presste die Lider aufeinander, der Schmerz zuckte tief.

»Was ... warum ...«, wisperte er. Die Müdigkeit umklammerte seinen Verstand, jeder Gedanke machte ihn mürbe.

»Du hast das Bewusstsein verloren und bist mit dem Kopf gegen den Flügel geschlagen«, sagte Elias. Er stand dicht hinter seiner Schwester, bat sie ein Stück zur Seite. Dann beugte auch er sich etwas tiefer und griff nach Leos Handgelenk, fühlte erst seinen Puls, dann seine Stirn. Er wirkte ruhig, seine Handgriffe routiniert. »Alles in Ordnung. Du kommst wahrscheinlich mit einer Beule davon.«

Er ließ ab von ihm, trat einen Schritt zurück, um seiner Schwester wieder Platz zu machen. Elise drängte an Leos Seite, strich ihm besorgt durchs Haar.

»Nichts ist in Ordnung«, sagte sie, Beklemmungen drückten ihre Stimme tiefer. »Ich habe dich mehrfach gefragt, wie es dir geht, Leo. Du hättest etwas sagen müssen.«

»Mir ... i-ich ...«, begann er von Neuem, schwenkte von Elise zu seinem Freund. Als sich ihre Blicke trafen, drückte Kasimir seine Hand, sah reumütig beiseite.

Und plötzlich machte es klick.

»Das Lied ...«, flüsterte Leo. »Du ... du warst sauer, weil ...« Er atmete flacher, versuchte, sich zu konzentrieren, sprach kontrolliert langsam. »Kasi, ich habe dein Lied nicht geklaut, es ... es war die Bedingung, wir ... wir mussten ...«

Erneut begann sich alles zu drehen, Leos Bewusstsein hielt den hervorquellenden Worten kaum stand. Bevor er jedoch zum nächsten Erklärungsversuch ansetzen konnte, lehnte sich Kasimir vor sein Ohr, flüsterte.

»Ich weiß, Elise hat mir alles erzählt. In eurem Vertrag steht, dass ihr den Titel interpretieren müsst, den ihr auf ihrem Kanal eingespielt habt ... den Titel. Du hast bloß den Namen übernommen ... du hast es geschrieben, es ist dein Lied. Es tut mir leid, ich ...«

Kasimirs Stimme brach, er spannte sich an. Leo legte die Hand auf sein Schulterblatt, strich ihm behutsam über den Rücken. Was auch immer ihn geißelte, Leo wollte nicht, dass es zwischen ihnen stand. Kasimirs Körperwärme hatte ihm gefehlt, seine Nähe, seine Zuneigung. In diesem Augenblick wollte er ihn bloß an seiner Seite wissen.

»Wie geht es dir?« Elise setzte sich vorsichtig neben ihm auf die Matratze. Leo streifte ihren Blick, dann sah er schläfrig zur Zimmerdecke.

»Müde ...«

»Kein Wunder.« Sie seufzte, strich mit der flachen Hand über den Bettbezug und nickte zu ihrem Bruder. »Lias hat erste Hilfe geleistet, dann haben wir dich sofort aufs Hotelzimmer gebracht. Hier bleibst du auch erst einmal.«

»Aber ... warte, wie spät ...« Leo wollte seinen Arm heben, doch Kasimir belastete ihn mit dem Ellenbogen, drückte Leo stattdessen leicht an sich. Er ahnte, was das bedeutete. »Kasi, deine freie Probe ...«

»Ist mir völlig egal.« Kasimir wisperte in den Stoff seiner Kapuze, schmiegte sich an Leos Gesicht. »Ich bleibe hier, bis es dir besser geht. Meinetwegen bis nach der Show.«

»Aber es geht mir ...«

Leo verstummte, spürte, wie seine Lider schwerer wurden. Dann drückte er Kasimir an sich. Nein, es ging ihm nicht gut, und er durfte weder Kasimir und Elise noch sich selbst etwas vormachen. Jedem von ihnen war am Gesicht abzulesen, wie viel Kummer er ihnen bereitet hatte. Er musste damit aufhören, jetzt.

»Ich denke nicht, dass das notwendig ist, Kasimir.« Als Elias näher trat, hob Kasimir den Kopf. Sein Gesicht war blass und der Bereich um seine Lider gerötet; in seinem Blick schimmerte Argwohn. Elias ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ich verstehe deine Sorge, aber Leonhard braucht keine Gesellschaft, sondern Ruhe. Er muss viel trinken und schlafen. Dann kann er morgen auch wie geplant auftreten.«

»Es gibt keinen Auftritt«, zischte Kasimir, drückte Leos Hand. »In dem Zustand geht er nicht auf die Bühne.«

»Ich halte das auch für keine gute Idee.« Elise legte ihrem Bruder die Hand in die Schulterbeuge, suchte erst seinen Blick, dann Leos. »Du schleppst dich seit Tagen. Wir sollten darüber nachdenken, unsere Kandidatur auszusetzen.«

»Auf gar keinen Fall.« Elias' Antwort erfolgte prompt und gefühllos. Für einen Moment war es so still, dass Leo seinen Herzschlag zu hören glaubte. »Sein Kreislauf stabilisiert sich. Es gibt keinen Grund, die Teilnahme zurückzuziehen. Weder jetzt noch morgen ...«

»Er hat sich den Kopf an einem beschissenen Konzertflügel geprellt«, unterbrach Kasimir ihn und stützte sich auf, sah Elias in die Augen. »Du bist kein Arzt, du entscheidest nicht über seine Verfassung. Wenn es ihm nicht gut geht, wird er nicht spielen, kapiert?«

Kasimirs Atmung ging schnell, sein Blick war stechend. Elias hingegen verzog keine Miene, er stand ruhig wie ein Fels in der schäumenden Gischt. Dennoch lag etwas in seinen Augen, das Leo eine Heidenangst einjagte.

»Können wir uns bitte beruhigen?« Elise funkelte sowohl Kasimir als auch ihren Bruder an. »Leo braucht Schlaf, richtig? Setzen wir uns lieber später noch einmal zusammen und wägen ab, wie es ihm geht.«

»Nicht nötig«, wiederholte Elias so entschieden, dass Leo förmlich hörte, wie Kasimir die Backenzähne übereinander schob. »Du, ich und Kasimir gehen zur Gala. Leonhard bleibt hier.«

»Aber«, begann Leo reflexhaft, »ich muss daran teilnehmen. Alle Kandidaten sind dazu verpflichtet ...«

»Nicht im Krankheitsfall.« Elias sah kurz zu seiner Schwester. »Elise kann euch beide vertreten. Deine Anwesenheit ist ein Unsicherheitsfaktor. Wenn du zusammenbrichst, gefährdest du den gesamten Ablauf.«

Leo wollte etwas entgegnen, doch er hatte keine Argumente. Tatsächlich konnte er im Moment nicht einschätzen, wie er den Abend meistern würde. Hier in seinem Bett war er sicher, konnte seinen pochenden Kopf im Kissen vergraben, seiner Müdigkeit nachgeben. Dennoch traf ihn Elias' Einschätzung. In seinen Augen war er als Teil des Duos offenbar verzichtbar.

»Ich denke auch, dass du hier bleiben solltest«, murmelte Elise. »Du hast heute genug mitgemacht. Lieber sicher, als es später bereuen.«

Daraufhin sah sie zu Kasimir, dessen Anspannung immer noch seine Mimik verhärtete. Unter ihren besorgten Worten löste sie sich ein wenig.

»Was denkst du, Kasimir? Kommst du ohne Leo auf dem Empfang zurecht?«

»Sicher«, antwortete er, fokussierte weiterhin ihren Bruder. Seine Stimme klang fest, doch Leo glaubte, ein leichtes Zittern in seinen Fingerspitzen wahrzunehmen. Zeitgleich spürte er Elises Hand auf seiner Schulter. Ihr nachgiebiger Blick drang bis in sein Gewissen vor.

»Leo. Ich will morgen mit dir auftreten. Aber nur, wenn es dir gut geht.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich weiß, es gefällt dir nicht, aber kannst du dich ein letztes Mal für dieses Projekt aufopfern und hier bleiben?«

Der Nachdruck ihrer Worte legte sich auf Leos Brust, drückte in seinem Herzen. Er spürte, wie Kasimirs Hand in seiner zu schwitzen begann, bemerkte Elias' erwartungsvollen Blick. Er hatte ihnen so viel abverlangt. Er wollte niemanden mehr enttäuschen.

»Okay.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt