Kapitel 96

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Anstatt noch etwas zu sagen, fischte er sein Handy aus der Tasche und hielt mir ein Foto hin, dass einen süßen kleine Jungen mit Zahnlücke und den typischen dunkelbraunen Haaren der Espositos zeigte „Das ist er. Sein Name ist Elio. Er wird nächsten Monat 3 Jahre."
So sanft wie er von seinem Neffen sprach hatte ich ihn selten erlebt. Ich schluckte den dicken Kloß hinunter, der mir die Kehle zuschnürte, nahm das Handy in die Hand und betrachte diesen kleine unschuldigen Jungen, der wahrscheinlich keine Ahnung hatte in was für ein Chaos er hineingeboren wurde. Sofort empfand ich Mitleid mit ihm, denn ich wusste wie es war in etwas hinein geboren zu werden, um das man nie gebeten hatte.
„Weiß meine Tante es?" warum ich ausgerechnet diese Frage zuerst stellte wusste ich nicht, aber sie schien mir wichtig. Konnte sie es wissen und einfach damit leben? Und was war dann mit meinem Cousin? Wusste Federico von seinem Halbbruder? Was bedeutete Elios bloßen Existenz für das Machtgefüge innerhalb der Familie? Er war Domenicos Sohn, damit hatte er Anspruch auf ein Erbe. Wussten sie, dass Federico folgen auf den Thron der Esposito nicht so sicher war wie je gedacht? Oder belügte mein Onkel auch sie?

„Ich denke sie weiß es. Laut meiner Schwester war sie wohl nicht die einzige, mit der Domenico sich neben seiner Ehe vergnügte, allerdings ist Phoebe wohl die einzige, die von ihm schwanger wurde und das Kind auch tatsächlich bekam. Ich schätze deine Tante weiß, dass es andere Frauen gibt, doch das stört sie nicht, solange sie sich als Königin ausführen darf, lebt sie mit seinem Verfehlungen. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass sie nichts von Elio weiß, denn einen möglichen Konkurrenten für ihren geliebten Goldjungen Federico würde sie sicher nicht dulden." erklärte er verächtlich. Hunter war kein Fan meine Tante, dass war ein offenes Geheimnis.
„Wo sind sie jetzt? Deine Schwester und Elio meine ich" fragte ich leise ohne den Blick von dem Bild zu nehmen. „Erinnerst du dich an das Safehouse? Das das außerhalb von Chicago liegt und in das wir nicht konnten, weil es belegt war?" Hunter seufzte schwer, nahm mir das Handy weg und verstaute es wieder in seiner Hosentasche. „Dort sind sie. Niemand weiß wo es genau ist, außer deinem Onkel und seinen engsten Vertrauten natürlich"
Fassungslos sah ich ihn an „Du weißt nicht wo sie sind?" Er schüttelte bloß den Kopf. „Glaubst du sonst würde ich mich so von ihm erpressen lassen? Wenn ich wüsste, wo er sie versteckt hätte ich sie längst geholt und wäre mit ihnen über alle Berge. Alle drei Monate arrangiert dein Onkel ein Treffen, immer an einem anderen Ort und immer mit mindesten 5 seiner besten Männer, alle schwer bewaffnet. Es würde mir schmeicheln, wie viel Angst er vor mir hat, wenn es nicht so grausam wäre." lachte er trocken auf und meinem Herz wurde ein weitere Riss hinzugefügt. Hunter ging für seine Schwester und für seinen Neffen jeden Tag buchstäblich durch die Hölle, weil sie alles waren, was er hatte. Sie waren seine Familie, eine, die es nur gab, weil er sein eigenes Glück und seine Freiheit geopfert hatte.

In diesem Augenblick begriff ich es, es war plötzlich ganz klar was ich zu tun hatte. Ich würde das selbe wie er tun. Für ihn und seine Familie. Ich würde mich nicht mehr querstellen und Hunter bitten mich zu retten, einfach weil ich kein Recht dazu hatte. Mein Leben war mein Problem, nicht Hunters, der bereits alle Hände voll damit zu tun hatte, die zu schützen die auf ihn angewiesen waren. Ich würde für ihn kein weitere Klotz am Bein sein, sondern mir ein Beispiel an ihm nehmen und meine Bürde mit stolz tragen. Oder es zumindest vorspielen so gut es ging.
Mit einer plötzlichen Gewissheit stand ich abrupt auf, griff nach meine Koffer. „Wir sollten los, Owen wartet sicher schon" Erst als ich schon an der Tür war, bemerkte ich, dass Hunter mir nicht gefolgt war. Er saß noch immer wie erstarrt auf dem Sofa. „Hunter?" rief ich nach ihm, doch er reagierte nicht, also ging ich zurück ins Wohnzimmer, wo er immer noch saß, den Kopf in die Hände gestützt und zu Boden starrte. „Hunter? Wir sollten wirklich los" wiederholte ich, doch er rührte sich nicht. Langsam hockte ich mich vor ihn, löste seine Hände von seinem Gesicht und ersetzte sie durch meine eigenen. Sein Blick traf mich und mit ihm eine ganz neue Mischung aus Schmerz und... Scham.

„Ich bin so ein gottverdammter Wichser, weil ich das alles einfach zulasse." knurrte er, doch er klang nur traurig, nicht wütend. „Das stimmt nicht, sag sowas nicht" beschwichtigte ich ihn oder besser ich versuchte es, denn er wischte es einfach beiseite wie eine lästige Fliege und ganz plötzlich war die Wut wieder da, die diesmal mich traf. „Lass das ja? Hör auf mich zu bemitleiden oder so zu tun als würdest du verstehen warum ich es zulassen, dass man dich wortwörtlich an dieses Bastard Owen verkauft, nur um als Sieger aus einem absolut sinnlosen Bandenkrieg hervorzugehen, denn du lügst! Du lügst wenn du so tust als verstehst du es, denn das kannst du nicht. Ich selbst verstehe es ja nicht." brüllte er mich unerwartet heftig an, doch ich zuckte nicht zurück. Das er so war war verständlich, das hier war für uns beide eine Ausnahmesituation mit der wir jeder auf seinen eigenen Weise komplett überfordert waren.

„Du tust es für deine Schwester und für den kleinen Elio. Es ist mir egal, ob du es nicht glauben willst, aber ich verstehe es, dass tue ich wirklich. Das heißt keineswegs das ich nicht wünschte, es wäre anders, versteh mich bitte nicht falsch. Natürlich wünschte ich mir, du würdest mich retten, so wie du es immer getan hat seit du in mein Leben getreten bist. Aber das hier" ich hielt die Hand mit dem Verlobungsring hoch „Das hier ist jetzt nicht mehr dein Problem, denn mit diesem Ring und dem Versprechen was mit ihm einhergeht entzieht man mich deiner Obhut, du wirst als mein Bodyguard entlassen, spätestens in einer Woche, wenn ich nach Vancouver muss, dass wissen wir beide oder nicht? Mein Onkel wird dich nicht mit lassen. Du bist zu wertvoll für ihn, er braucht dich oder besser deine Fähigkeiten hier. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, Hunter. Es ist vorbei"
Mir lief eine einzelne Träne hinab, die ich schnell wegwischte. Auf keinen Fall wollte ich hier und jetzt vor ihm zusammenbrechen, denn dann würde ich nie wieder die Kraft finde, aufzustehen und zu gehen. Deshalb verschloss ich all meinen Schmerz in mir und spielte für ihn die Abgeklärtheit in Person. Er sollte sich nicht schlecht fühlen. Das hier war alles nicht seine Schuld. Es war die Schuld meiner Familie, die sowohl mit ihm als auch mit mir spielte, als wären wir bloß Figuren auf einem Spielfeld, die sie nach Belieben verschieben konnten.
„Dann gibts du einfach auf? Du gibts uns auf? Du ergibst dich kampflos deinem Schicksal und wirst die Frau dieses Bastards?" fauchte er mich an, doch ich behielt mein Pokerface, während ich mich innerlich selbst beruhigten.
Nur noch ein paar Minuten.
Ich musste nur noch ein bisschen durchhalten, bis ich allein war. Dann konnte ich den Schmerz und die Wut zulassen.
Nur noch ein bisschen und ich musste nicht mehr stark sein.
Nur noch ein bisschen...

„Ich habe gekämpft, hast du das vergessen? Ich habe gekämpft, aber die Chancen stehen leider äußerst beschissen, wenn man vollkommen unbewaffnet und ganz alleine auf dem Schlachtfeld steht. Ich habe versucht, mir Hilfe zu holen, aber es gibt niemanden der mir hilft. Nicht meinem Mutter und auch nicht du. Niemand wird mich da raus holen, also ja, wenn du es so nennen willst, gebe ich auf. Aber nicht weil ich schwach bin, sondern weil ich schlau genug bin zu erkennen, wenn ich verloren habe. Und das habe ich. Ich habe heute alles verloren. Meine Zukunft. Mein Leben. Mein Zuhause. Meine Famile. Und die Liebe meines Lebens. Alles an einem Tag, Hunter. Also Entschuldigung bitte wenn ich nicht mehr die Kraft habe diesen absolut aussichtslosen Kampf fort zu führen und mich stattdessen versuche damit zu arrangieren, was jetzt wohl mein Leben sein wird"
Jetzt weinte ich doch wieder, obwohl ich alles versuchte es zurück zuhalten. Hunter wollte noch etwas sagen, dass sah ich, doch ich brachte ihn mit erhobener Hand zum schwiegen. „Wir sollten los. Ich kenne Owen gut genug um zu wissen, dass er es hasst zu warten." und dann lief ich los, direkt hinaus zur Tür und sah nicht mehr zurück.

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