Kapitel 1

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Joy hatte gerade noch rechtzeitig das Gleis erreicht und war in letzter Sekunde durch die sich bereits schließenden Türen in den Zug gehuscht. Völlig außer Atem setzte sie sich auf den nächsten freien Platz, den sie finden konnte und holte erst einmal tief Luft.

In letzter Zeit war ihr Leben ein einziges Chaos. Ihr Vater war zu nichts mehr zu gebrauchen. Er war abgelenkt und nicht mehr bei sich. Er vergaß so vieles. Seine Tasche, wenn er zur Arbeit ging, das Einkaufen, Wäsche waschen, ja er vergaß sogar zu essen und manchmal stand er überhaupt nicht auf, bis sie in sein Zimmer stürmte, mit seiner Tasche in der Hand und einem Stück Brot, das sie ihm eifrig in den Mund stopfte, während er sich eine Hose überzog, sodass er direkt aus dem Bett zur Arbeit gehen konnte beziehungsweise musste.

So ähnlich war es jedes Jahr zu dieser Zeit. Es war die Zeit, in der ihre Mutter gestorben war. Sie war damals bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Ihr Dad hatte sie nicht mehr retten können und machte sich dafür bis heute Vorwürfe. Joy selbst hatte ihre Mutter nie kennen gelernt. Sie seufzte traurig bei dem Gedanken und umklammerte ihre auf dem Schoß liegende Schultasche noch fester. Als das alles passiert war, war Joy gerade mal ein paar Wochen alt gewesen. Ihr Vater war nach der Tragödie ganz alleine dagestanden, mit einem schreienden Baby auf dem Arm, und hatte irgendwie sein Leben auf die Reihe kriegen müssen. So ganz hatte er das bis heute nicht geschafft, dachte sie und schmunzelte kaum merklich bei dem Gedanken an ihren manchmal so zerstreuten Vater. Aber in letzter Zeit machte sie sich Sorgen um ihn. Sie war es ja gewohnt, dass es ihm zu dieser Zeit nicht gut ging, aber dieses Jahr war es schlimmer als sonst.

Wie oft saß Joy in letzter Zeit im Zug und dachte über diese Dinge nach. Immer und immer wieder. Die Gedanken waren ihr schon lästig, aber sie waren im Moment einfach bestimmend. Immer öfter schlich sich auch der Gedanke an ihre Mutter in ihr Bewusstsein. Sie hatte noch nie ein Bild von ihr gesehen. Ihr Vater sagte, sie hätten keine mehr. Die Bilder wären alle bei dem Hausbrand verloren gegangen. Das hatte Joy schon immer traurig gemacht und auch jetzt spürte sie, wie der Gedanke sie in die Welt des Selbstmitleids entführte, die sie so gut kannte. Als Kind hatte Joy oft versucht, ihre Mutter zu malen, aber ihr Dad hatte die Bilder immer nur mit einem einfachen „Sehr schön hast du das gemalt." kommentiert. Irgendwann hatte sie es aufgegeben. Heute versuchte sie einfach, sich ihre Mutter in Gedanken vorzustellen. Natürlich war sie eine Schönheit gewesen, das hatte auch ihr Dad immer betont. Wie oft hatte er Joy als Kind sanft über das Gesicht gestreichelt und mit einer stolzen und zugleich tieftraurigen Miene geflüstert, dass sie ihre Schönheit alleine von ihrer Mutter geerbt habe.

Eigentlich wusste Joy insgesamt nur sehr wenig von der Zeit vor ihrer Geburt. Ihr Vater erzählte nie davon und wenn sie ihn fragte, wich er ihren Fragen mit irgendwelchen Ausreden aus. Alles, was sie wusste, war, dass sie bis zu dem verheerenden Hausbrand vor 16 Jahren in Perth gelebt hatten. Sie wusste nicht einmal, wo genau. Ihr Vater machte ein großes Geheimnis daraus und ermahnte sie immer, dass die Erinnerung zu schmerzhaft sei. Nach dem Hausbrand hatte ihr Dad es in Perth nicht mehr ausgehalten und er hatte weit weg von dort gewollt, wo seine geliebte Frau gestorben war. So war er dann schließlich mit der kleinen Joy nach Sydney gezogen. Ab da kannte Joy die Geschichten. Doch was es aus der gemeinsamen Zeit ihrer Eltern zu erzählen gäbe, war für sie ein großes schwarzes Loch, in das sie kaum Einblicke hatte. Das beschäftigte sie sehr und sie hatte sich in den letzten Tagen immer wieder vorgenommen, ihren Dad darauf anzusprechen. Aber in seiner momentanen Verfassung hatte sie es dann nie übers Herz gebracht, ihn zu fragen und dabei eventuell alte Wunden wieder aufzureißen. Also hatte sie es bleiben lassen.

„Oh, Mist, hier muss ich raus!"

Fast hätte sie ihre Haltestelle verpasst. Hektisch schnappte sie ihre Schultasche, die sie auf dem Sitz neben ihr abgelegt hatte, als der Mann mit dem komischen Schnurrbart neben ihr ausgestiegen war und drängte sich an ein paar stehenden Menschen vorbei raus aus dem Zug. Die Sommerhitze schlug ihr entgegen, doch es war weitaus angenehmer als die stickige Luft im Zug. Sie holte einmal tief Luft, schüttelte ihren Kopf und ihren Körper durch, als versuchte sie, die Gedanken von sich abzuschütteln und machte sich dann auf den Weg zur Schule.

Hätte sie heute schon gewusst, was sie in den nächsten Tagen erleben und durchmachen würde, hätte sie sich vermutlich gewünscht, niemals mehr über die Vergangenheit ihres Vaters zu erfahren. Vielleicht war es ja sogar besser, dass sie nichts wusste. Vielleicht hätte sie sich wünschen sollen, dass alles genauso blieb, wie es jetzt war. Doch davon hatte Joy in diesem Moment nicht die leiseste Ahnung. Stattdessen nahm sie sich vor, endlich mehr zu erfahren.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt