Kapitel 62

267 39 33
                                    

Joy spürte, dass sie langsamer wurden. Die Paddel wurden in langsamerem Rhythmus ins Wasser getaucht. Um sich irgendwie zu beruhigen, hatte sie begonnen, die Paddelzüge zu zählen. Sie war bei dreiundfünfzig angekommen. Sie konnte überhaupt nicht einschätzen, was das für die zurückgelegte Distanz bedeutete. Vierundfünfzig. Joys Puls beschleunigte sich rasant. Das war's. Es war der letzte Zug gewesen. Mit rasendem Herzen hörte sie, wie der Mann die Ruder ins Boot legte. Was würde jetzt passieren?

Joy machte es verrückt, nichts zu sehen. Wo um alles in der Welt waren sie denn jetzt? Wieso hatten sie angehalten? Was war ihr Ziel?

Der Sack über ihrem Kopf roch unangenehm und kitzelte zu allem Überfluss an der Nase. Mit ihren gefesselten Händen hatte Joy keine Chance, sich zu kratzen, also hatte sie immer wieder vorsichtig den Kopf auf dem Boden gerieben, auf dem sie lag. Die ganze Fahrt über hatte sie nicht gewagt, sich zu bewegen. Sie befand sich in einer Art Schockstarre. Der Schmerz aus ihrem Fuß zog inzwischen das halbe Bein hinauf und sie schaffte es kaum noch, ihn zu verdrängen. Doch jetzt drangen andere Dinge in ihr Bewusstsein.

„Aye, alles klar, zieht uns nach oben!", hörte sie den Mann hinter ihr rufen, nachdem irgendetwas in dem Boot gelandet war und sie Geräusche gehört hatte, die sie nicht hatte einordnen können. Waren es Seile gewesen? Hatten die Männer das Boot an Seilen befestigt? Joys Brust zog sich zusammen und ihr Atem ging stockend. Unruhig spürte sie, wie das Boot das Wasser verließ. Sie wurden tatsächlich nach oben gezogen! Joys Herz raste wie verrückt. Wie wild schlug es gegen ihren Brustkorb, als würde es versuchen, auszubrechen. Noch immer wagte sie nicht, sich zu rühren. Angestrengt lauschte sie, was um sie herum geschah. Sie hörte Stimmen. Mehrere. Es waren Männer. Einige lachten.

„Seht sie euch an!", hörte sie jemanden sagen.

„Habt ihr sie euch tatsächlich geschnappt?", fragte ein anderer.

„Jetzt kannst du was erleben, James", fauchte ein weiterer.

Joys Herz setzte augenblicklich einen Moment aus und sie stockte. James! Redete dieser Mann von ihrem Dad? Dad!, dachte sie verzweifelt, doch sie hütete sich davor, es laut zu sagen. Nicht, solange sie nicht wusste, wo sie hier gelandet war und wer die Männer waren, die über sie sprachen. Trotzdem hatte eine Hoffnung ihr Herz gepackt: Würde sie ihren Dad jetzt endlich wiedersehen? Sie sehnte sich nach nichts mehr als das! Es ließ sie sogar für einen kurzen Moment ihre Angst vergessen. Aber wirklich nur für einen Moment. Denn im nächsten Moment kamen die Worte erst richtig bei ihr an. Jetzt kannst du was erleben, James. Was meinte der Mann damit? Was hatte sie nur getan? Hatte sie ihrem Dad geschadet, indem sie gekommen war? Sie hatte ihm doch helfen wollen!

Unwillkürlich begann sie sich zu winden und zu versuchen, sich aus den Fesseln zu befreien. Sie schluchzte. Verzweifelt hörte sie das Gelächter von oben. Es fühlte sich an, als würde eine ganze Menschenmenge belustigt auf ihr herumtrampeln. Ihr Brustkorb wurde immer enger und sie hatte Angst, bald keine Luft mehr zu bekommen. Wieso lachten diese Männer? Es war so grausam! Plötzlich wurde sie unsanft von einem der Männer neben ihr gepackt und auf die Beine gezogen. Erschrocken zuckte sie zusammen und zappelte im Griff der starken Hände.

„Hör auf, dich zu wehren. Es hat sowieso keinen Sinn", lachte er mit rauer Stimme und Joy zuckte schon wieder zusammen.

Stocksteif stand sie da. Es fühlte sich einfach grauenvoll an, offensichtlich das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein, ohne selbst etwas sehen zu können. Wo war sie? Wie viele Männer starrten sie an? Wie viele Männer lachten sie aus?

Plötzlich rüttelte und krachte es. Joys Herzschlag galoppierte beunruhigt. Das Boot stieß gegen etwas anderes – vermutlich ein Schiff. Sämtliche Muskeln in Joys Körper spannten sich an. Sie mussten oben angekommen sein. Joy bekam kaum noch Luft, so schnell schlug ihr Herz. Da wurde sie auch schon von oben gepackt und unsanft nach oben gerissen.

„Komm her, Schätzchen", lachte eine fiese Stimme und weitere Männer stimmten mit ein.

Unkontrolliert wurde sie vom einen zum anderen gestoßen. Joy verlor mehrmals den Halt, nur um in den Händen irgendeines anderen Mannes zu landen. Alle lachten sie aus. Und niemand hielt es für nötig, ihr den Sack vom Kopf zu nehmen. Joy war verzweifelt. Sie fühlte sich unendlich gedemütigt und verletzt. Sie hatte überhaupt keine Chance, sich gegen diese Männer zu wehren. Ihr Körper war ein Spielball, ihre Hände nutzlos. Hilflos musste sie die vielen Runden durch verschiedene Männerhände über sich ergehen lassen, während sich die ersten Tränen in ihren Augen sammelten. Was hatte sie nur getan? Wieso war sie hier? Was waren das für Männer?

Wieder wurde sie grob weitergeschubst und der Mann begrapschte sie unfein an den Brüsten. Joy stockte der Atem und sie schluchzte verzweifelt auf.

„Das reicht!", brüllte eine Stimme von weitem, die Joy durch Mark und Bein ging.

Erschrocken zuckte sie zusammen. Sofort verließen die Hände ihre Brüste und sie stand alleine da. Unsicher schwankte sie auf ihren Beinen, die drohten, jeden Moment nachzugeben. Was war los?

„Verdammt, geht an die Arbeit!", brüllte dieselbe Stimme. „Bear, Will, bringt sie zu mir!"

Black Soul! Es musste Black Soul sein! Der Entführer ihres Vaters, der Mann, der die Morddrohung ausgesprochen hatte. Joys Herz raste. Panik überkam sie. Black Soul war hier und sie war auf direktem Wege zu ihm. Joy war vollkommen überfordert von der Gesamtsituation. Sie hatte die letzten Minuten noch nicht verarbeitet, da wurde sie bereits wieder an den Armen gepackt und grob vorwärts geschoben. Unsicher und geladen vor Nervosität humpelte sie vor den Männern her. Dann plötzlich veränderte sich die Geräuschqualität. Das Meer wurde leiser und der Schall dumpfer. Sie waren in einem Raum angekommen. Joy atmete tief durch. Sie war da. Sie war bei Black Soul.

Nur einen Moment später wurde ihr der Sack vom Kopf gerissen.

~

„Joy!", schluchzte James zutiefst verzweifelt.

Es bestand kein Zweifel daran. Joy war auf diesem Schiff. Er hatte das Gelächter und die Fragen gehört. Und immer wieder hatte er sie erschrocken aufschreien gehört, was sein Herz jedes Mal zum Stillstand gebracht hatte. Er war sich zu hundert Prozent sicher: seine geliebte Tochter war hier. Verzweifelt hatte er nach ihr gerufen, doch seine Stimme war zu schwach gewesen, um gegen das Gelächter und Gebrüll von draußen durchzudringen. Zumindest hatte er keine Antwort bekommen. James' Herz raste. Er konnte und wollte es nicht wahrhaben. Es war zu schrecklich, um es zu begreifen. Joy, auf diesem Schiff! Auf dem schrecklichsten und grausamsten Schiff aller Zeiten!

Besorgt hatte Annie das Geschehen verfolgt.

„Sie ist wirklich gekommen?", hatte sie irgendwann erstaunt gefragt.

James schüttelte nur fassungslos den Kopf. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und sein Herz schmerzte, als würde es in einer Schraubzwinge stecken, die immer enger zugezogen wurde. Seine Tochter hatte sich geopfert. Natürlich hatte sie das. Er hatte nichts anderes von ihr erwartet. Niemals hätte sie zugelassen, dass Henry einen Menschen töten würde, nur weil sie zu feige gewesen wäre, sich zu stellen. Trotzdem wünschte James sich so sehr, dass sie es nicht getan hätte! Dass sie einfach einmal nur an sich gedacht hätte. Doch dann wäre sie nicht Joy. Dann wäre sie nicht seine heißgeliebte Tochter. Joy hatte, was das anging, viel zu viel von ihm geerbt. Den Dickkopf, den starken Willen und die Aufopferungsgabe. Wenn es hart auf hart kam würde sie sich immer hinten anstellen und alles stehen und liegen lassen, um für andere da zu sein. Das hatte auch er in den letzten Tagen und Wochen erleben dürfen, als sein Leben ein vollkommenes Chaos gewesen war. Verdammt, wäre Joy doch nur manchmal ein bisschen egoistischer! Wenigstens ein bisschen. Wenigstens, wenn es um ihr Leben ging!

Verzweifelt ließ James den Kopf hängen. Es war vorbei. Er hatte den Kampf endgültig verloren. Und Henry hatte alles erreicht, was er wollte. Nun würde James ihm alles geben müssen, was er von ihm verlangte, so grausam es auch sein mochte. Aber Joy war hier. Und das änderte alles!

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt