Kapitel 34

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Joy schlug langsam die Augen auf. War sie eingeschlafen? Verwirrt sah sie sich um.

Sie war in einem Parkhaus.

Beklommen griff sie sich an ihren schummrigen Kopf. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und im Hier und Jetzt anzukommen. Nur langsam nahmen Bilder in ihrem Kopf Gestalt an. Vage Erinnerungen schwammen durch ihre Gedanken. Das Parkhaus. Sie hatte sich hier versteckt, als sie nicht mehr weiter gewusst hatte. Als sie – als sie aus dem Krankenhaus geflohen war. Die Erinnerungen waren verschwommen und sie konnte sich keinen wirklichen Reim darauf machen. Es war ihr aber auch zu anstrengend, wirklich darüber nachzudenken.

Stöhnend sah sie sich um. Es war ein kleines Parkhaus, in dem sie sich hier versteckt hatte. Es schien im ersten Stock eines Gebäudes zu liegen. Vielleicht gehörte es zu einem Wohnhaus. Nur wenige Autos standen in den breiten Parklücken. Joy war neben einem Mülleimer an der Wand zusammen gekauert. Vorsichtig setzte sie sich auf. Der Schwindel war ein wenig besser als vor dem Schlafen. Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Waren es Minuten gewesen oder Stunden? Reflexartig griff sie in ihre Hosentasche, um auf die Uhr zu sehen – doch sie griff ins Leere. Ihr Handy war nicht da. Sie dachte nicht weiter darüber nach und sah sich wieder um. Zu ihrer rechten war das Parkhaus offen und erlaubte einen Blick nach draußen. Es war noch hell, also war es zumindest noch nicht Abend. Nachdenklich drehte sie den Hut in ihren Händen im Kreis herum. Ihr Kopf pochte nach wie vor und die Wunden an ihrem Hals und Arm brannten.

„Was ist nur passiert?", fragte Joy sich und ihr Blick wanderte zu dem Verband am Arm. Sie erinnerte sich, dass sie sich schon vor dem Schlafen über diesen Verband gewundert hatte. Mit einer schnellen Handbewegung legte sie den Hut zur Seite und machte sich dann, ohne lange nachzudenken, vorsichtig am Verband zu schaffen. Sie musste einfach sehen, was sich darunter verbarg!

Mit wild pochendem Herzen wickelte sie den Verband auf, eine Lage nach der anderen. Bevor sie jedoch die letzte Lage offenlegte, hielt sie inne. Was würde sie gleich erwarten? Wollte sie überhaupt wirklich wissen, was sich darunter verbarg? Wollte sie wirklich wissen, was passiert war oder gab es einen guten Grund, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte? Doch die Neugier siegte. Sie wollte sich nun keine Zweifel erlauben. Sie musste einfach wissen, was passiert war.

Joy atmete noch einmal tief durch, dann löste sie nervös die letzte Lage des Verbands von ihrem Arm. Erschrocken erblickte sie eine lange Schnittwunde, die mit mehreren Stichen genäht worden war und sich über die ganze Breite ihres Arms zog. Der Anblick versetzte ihr einen herben Schlag und ein Bild blitzte vor ihrem inneren Auge auf, das sie zusammenzucken ließ. Es war das Schwert ihres Vaters. Sie hatte sich mit dem Schwert ihres Vaters geschnitten! Doch das Bild war mit einer panischen Angst gepaart. Joy atmete schneller. Sie war nicht alleine gewesen, als sie sich geschnitten hatte. Da war noch jemand anderes gewesen. Erschrocken erkannte sie die verschwommenen Umrisse eines Mannes, die nun vor ihrem inneren Auge auftauchten. Hastig deckte sie die Wunde wieder ab, in der Hoffnung, dass das Bild wieder verschwinden würde. Doch es hatte sich wie ein Brandmahl in ihr Gehirn gebrannt und sie mit einer Angst erfüllt, als stünde der Mann in diesem Moment direkt vor ihr. Ihr Herz schlug wie verrückt und ihr Puls schnellte in die Höhe. Sie spürte, wie sie zittrig wurde und presste sich angespannt gegen die Wand hinter sich. Unwillkürlich sah sie sich um – sie war in Gefahr!

Verdammt, verdammt, verdammt! Was war nur passiert? Wer war dieser Mann gewesen? Was hatte er von ihr gewollt?

Joys Atmung beschleunigte sich. Ihre Hände begannen zu zittern. Unbeholfen versuchte sie den Verband wieder um ihren Arm zu wickeln, was ihr mehr schlecht als recht gelang.

„So ein Mist", stieß sie angsterfüllt aus.

Sie brauchte Hilfe. Sie brauchte dringend Hilfe! Was hatte sie denn nur hier verloren? Was um alles in der Welt hatte sie sich dabei gedacht, aus dem Krankenhaus zu fliehen? War sie denn noch bei Verstand?

Nein, genau das war das Problem. Das war sie nicht gewesen. Sie hatte sich seltsam gefühlt. Ganz vage erinnerte sie sich an die Szenen im Krankenhaus. Hatten sie ihr Beruhigungsmittel gegeben? Das musste es gewesen sein. Deshalb hatte sie sich so seltsam gefühlt. Deshalb hatte sie nicht gewusst, was sie tat.

War die Stimme ihres Vaters nur Einbildung gewesen? Halluzination? Joy stöhnte. Die Erinnerungen wurden immer klarer. Das Krankenhaus, dieser Detective. Sie hätten ihr sagen müssen, was los war! Joy verfluchte die Ärzte, den Detective und sogar Amy dafür, dass sie sie im Dunkeln darüber gelassen hatten, was passiert war. Sie hätten es ihr erzählen müssen, dann wäre das alles hier nie geschehen. Dann wäre sie niemals abgehauen.

Von einer plötzlichen Panik erfasst, versuchte Joy aufzustehen, doch ihre Knie gaben sofort wieder nach und sie sank zurück zu Boden.

„Wo bist du nur, Dad? Was ist nur passiert?"

Es musste so viel geschehen sein, was sie vergessen hatte. Verdammt, sie musste sich wieder erinnern! Wer war dieser Mann gewesen, als sie sich mit dem Schwert geschnitten hatte? Hatte sie sich mit dem Schwert verteidigt? Hatte sie solche Angst gehabt? Ein Schwert war eine tödliche Waffe – war sie in Lebensgefahr gewesen, wenn sie zu solchen Mitteln gegriffen hatte?

Die Panik kroch weiter durch ihre Glieder und immer wieder blitzte dasselbe Bild vor ihrem inneren Auge auf. Sie spürte den Schmerz, als sich das Schwert durch ihr Fleisch schnitt. Und sie sah den Mann. Eine unheimliche Gestalt direkt vor ihren Augen.

„Ha – hallo?", begann Joy nun leise mit gebrochener Stimme. „Kann mir bitte jemand helfen? Hallo?"

Verzweifelt sah sie sich um. Sie war zu leise. Kein Mensch war hier im Parkhaus und der Straßenlärm von draußen übertönte ihren leisen Ruf. Aber konnte sie überhaupt lauter rufen? Oder war der Mann aus ihrer Erinnerung ihr womöglich auf den Fersen?

„Bitte!", flehte sie, ohne dass sie jemand hören würde, und eine Träne rann über ihre Wange. Noch einmal versuchte sie aufzustehen. Mit ganzer Kraft drückte sie sich an der Wand entlang nach oben und kam schließlich auf wackligen Beinen zum Stehen. Ein stechender Schmerz zog durch ihr pochendes Fußgelenk, doch sie biss die Zähne zusammen und blieb stehen. Einen Moment lehnte sie an der Wand und versuchte, sich zu sammeln und irgendwie zur Ruhe zu kommen. Ihr Herz schlug viel zu schnell und sie war völlig außer Atem, ohne dass sie wirklich etwas Anstrengendes getan hatte. Die Ungewissheit darüber, was passiert war, verstärkte die Angst, die das Bild des Mannes ausgelöst hatte. Sie hatte keine Ahnung, womit sie es zu tun hatte!

Stöhnend setzte sie einen Schritt vor den anderen, immerzu an der Wand entlang, sonst hätte sie den Halt verloren. Außerdem sah sie sich ununterbrochen paranoid zu allen Seiten um, obwohl sie hier im Parkhaus noch keinen Menschen gesehen hatte, seit sie hier war. Aber war da vielleicht doch jemand? Wurde sie verfolgt?

Sie drehte sich mit dem Rücken zur Wand und schob sich seitlich an ihr entlang. Sie traute ihren eigenen Sinnen nicht mehr. Sie musste einfach so schnell wie möglich aus diesem Parkhaus heraus und Hilfe finden. Wo war die Polizei nur, wenn man sie brauchte? Hatten sie etwa nicht nach ihr gesucht? Warum hatten sie sie noch nicht gefunden? Und – wo war sie überhaupt?

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt