Kurz bevor Joy die Straße erreichte, hielt sie inne. Die ganze Meute hinter ihr stoppte.
„Black Soul," wandte sie sich an den Mann, der ihr am dichtesten auf den Fersen klebte, „vielleicht sollte ich auch einen Hut tragen."
Verwundert sah Black Soul sie an. Er schien darin überhaupt keine Notwendigkeit zu sehen.
„Die Leute könnten mich erkennen. Das will ich nicht riskieren", erklärte sie daher.
Genervt verdrehte Black Soul die Augen und sah in die Runde.
„Bill, gib ihr deinen Hut", befahl er einem der Männer, der daraufhin missmutig seinen Hut abnahm und ihn Joy auf den Kopf drückte.
„Besser?", fragte Black Soul. „Können wir dann weiter?"
Joy nickte. Der Strohhut war ihr viel zu groß und rutschte ihr direkt über die Stirn. Vorsichtig schob sie ihn wieder ein wenig nach oben. Dann drehte sie sich um, Black Souls belustigtes Schmunzeln ignorierend, und ging zielsicher über die Straße. Niemals wollte sie Black Soul auch nur den kleinsten Teil ihrer Verunsicherung und Anspannung zeigen.
Joys Schiene an ihrem Fußgelenk war triefend nass von dem kurzen Weg vom Ruderboot zum Strand und rieb nun unangenehm auf der Haut. Sie spürte pochende Schmerzen im Fußgelenk, aber nicht nur da. Ihr gesamter Oberkörper schmerzte und ihre Haut brannte, als stünde sie unter Feuer. Ihr Kopf dröhnte fast unerträglich. Es war nur allzu verlockend, wieder zum Strand zurückzugehen und sich einfach in den Sand zu legen. Sich hinzulegen und nicht wieder aufzustehen. Einfach liegenzubleiben und sich auszuruhen. Sich auszuruhen, bis alle Schmerzen und der Schwindel verklungen waren. Doch auch das war keine Option. Ganz und gar nicht. Leider. Stattdessen setzte sie gequält weiter einen Schritt vor den anderen.
Der Bahnhof war zum Glück nicht weit von hier. Angespannt sah Joy sich um. Ein paar Menschen waren unterwegs. Hoffentlich wurden sie nicht misstrauisch, wenn sie Joy mit einer Truppe von zehn Männern vorbeigehen sahen. Sie mussten an einigen Restaurants vorbei, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Strands entlang zogen. Vor den Restaurants saßen Menschen, die ein spätes Abendessen genossen oder sich mit Freunden auf ein Gläschen Wein verabredet hatten. Ohne es zu wollen wuchs in Joy ein beißender Neid auf diese Menschen! Dass sie so unbeschwert dort sitzen und mit ihren Freunden lachen konnten, zog ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg.
„Amy!", dachte sie plötzlich.
Gab es nicht vielleicht irgendeinen Weg, wie sie Amy kontaktieren konnte? Doch Joys Aufmerksamkeit wurde sofort wieder in eine andere Richtung gelenkt. Eine Frau, die alleine an einem Tisch saß, musterte sie nachdenklich. Da fiel Joy ein, dass vermutlich alle Haut, die sie zeigte, feuerrot verbrannt war. Ihre Handgelenke zeigten Fesselspuren und ihr Gesicht war gezeichnet von Johns Schlägen. Es war zwar dunkel, aber Straßenlaternen erhellten die Umgebung. Vermutlich konnte man sehr wohl erkennen oder zumindest erahnen, in welchem Zustand Joy war. Erschrocken wandte sie ihren Blick ab, zog den Hut tiefer in ihr Gesicht und starrte zu Boden. Nun war sie doch froh um ihren zu großen Strohhut, der ihr dankbar über die Stirn fast bis in die Augen rutschte. Vielleicht hätte sie Black Soul auch um etwas Langärmeliges bitten sollen, auch wenn das dann unangenehm auf der Haut gescheuert hätte. Doch von den Männern trug niemand ein langes Hemd. Ihre Hemden waren kurz oder sie trugen T-Shirts. Keine Chance, Joys verbrannte Haut oder die Fesselspuren nun noch zu verbergen. Sie versteckte ihre Hände hinter ihrem Rücken und starrte weiter stur zu Boden. Sie hatte keine Ahnung, wie die Lage hier in Sydney war. War bekannt, dass sie entführt worden war? Wurden Bilder von ihr in den Nachrichten gezeigt? Kannten die Menschen ihr Gesicht?
Eine Gruppe an einem anderen Tisch lachte. Joy zuckte zusammen. Das Lachen ging ihr durch Mark und Bein. Wie befreit diese Menschen dort saßen! Vollkommen ahnungslos. Ausgelassen und fröhlich. Und sie, nur wenige Meter entfernt, war umzingelt und bewacht von zehn Piraten auf dem Weg zu ihrem Scheiterhaufen. Und das, nachdem sie sich gerade von ihrem Dad verabschiedet hatte. Es fühlte sich an, als würden zwei Welten aufeinanderprallen. Das Lachen und der Frohmut der Menschen um sie herum und ihr eigenes gequältes, schwer leidendes Herz. Die Qualen, denen sie ausgesetzt war, vollkommen unbemerkt von diesen Menschen. Joys Herz wurde immer schwerer und pochte wie wild in ihrer Brust. Konnte sie nicht doch Hilfe holen? Konnte sie diesen Menschen nicht einfach sagen, wer sie war und dass sie Hilfe brauchte? Dass sie in Gefahr war? Dass diese Männer Piraten waren? Dass sie sie töten wollten? Dann hätte das alles endlich ein Ende! Schon wieder stand sie am selben Punkt wie nur wenige Sekunden oder Minuten zuvor: Es wäre so einfach – wären da nicht ihr Dad und Annie.
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Im Strudel der Zeit - Tödliche Geheimnisse
AventuraJoy liebt ihren Vater über alles. Als er eines Tages, kurz nachdem er der Polizei bei den Ermittlungen in einem Mordfall geholfen hat, spurlos verschwindet, geht für sie eine Welt unter. Noch schlimmer wird es, als die Polizei in seiner Vergangenhei...