Kapitel 127

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Joy hatte schon wieder keine gute Nacht gehabt. Sie konnte die Stunden an einer Hand abzählen, die sie geschlafen hatte. Ihr Dad dagegen schien gut geschlafen zu haben. Hin und wieder war er aufgewacht, hatte leise gestöhnt, sich ein wenig hin und her gewälzt, so sehr seine Verletzungen das zuließen, und hatte dann weitergeschlafen. Die Erschöpfung der letzten Tage schien ihm schwer in den Knochen zu stecken. Gleichzeitig schien er sehr viel weniger an allem zu knabbern zu haben als Joy, die die Bilder einfach nicht aus ihren Gedanken vertreiben konnte. Ihr Dad schien eine Vergangenheit hinter sich zu haben, die noch viel schrecklicher war als alles, was er in den letzten Tagen durchgemacht hatte. Während Joy kaum mehr zur Ruhe kam und an kaum etwas anderes denken konnte, gönnte ihr Dad seinem Körper die Ruhe, die er brauchte. Joy bewunderte ihn dafür. Ein wenig musste sie schmunzeln. Immerhin führte er gewissenhaft den Befehl seiner kleinen Kapitänin aus. Er ruhte sich aus, so wie sie von ihm verlangt hatte.

Joy selbst sah irgendeine Kindersendung im Fernsehen. Um jeden anderen Sender machte sie momentan einen großen Bogen. Sie wollte nicht in den Nachrichten mit den letzten Tagen konfrontiert werden, die dort noch immer überall Thema waren. In der Kindersendung waren sprechende Tierchen gerade dabei, irgendwelche Streiche auszuhecken. Aber Joy bekam ohnehin nur die Hälfte mit. Regelmäßig schweiften ihre Gedanken ab. Zu den Geschehnissen der letzten Tage, aber auch zu dem, was sie in diesen Tagen erfahren hatte. Dass sie im Jahr 1703 geboren war. Es war noch immer zu verrückt, um es wirklich zu glauben. Doch die Situation, in der sie es erfahren hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass es die Wahrheit war. Joy wusste einfach nicht, was das für ihre Identität bedeutete. Sie war vollkommen überfordert damit, dieses Detail in ihr Selbstbild einzuordnen.

Ein leises Stöhnen ihres Dads ließ sie aufhorchen. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf nach links und beobachtete, wie ihr Dad sich an den Kopf griff. Vermutlich Kopfschmerzen. Dann sah er zu ihr und ein sanftes Lächeln zuckte über seine Mundwinkel.

„Guten Morgen, Joy", begrüßte er sie voller Liebe.

„Guten Morgen, Dad", grüßte sie zurück, ein weiteres Mal überwältigt von ihren Gefühlen. Es war ein solches Wunder, dass sie in der Lage waren, diese Worte überhaupt noch an den je anderen zu richten. Joy sollte tot sein! Sie hätte sterben sollen. Und doch waren sie beide noch am Leben.

„Was schaust du dir da an?", fragte ihr Dad schmunzelnd.

„Keine Ahnung, irgendwas, um die Langeweile und die Gedanken zu vertreiben", entgegnete Joy.

Ihr Dad nickte wissend, kommentierte ihre Worte aber nicht. Doch Joy erkannte die Sorge und erdrückenden Schulgefühle in seinem Blick. Da sie diesen Blick kaum ertragen konnte, fixierte sie stattdessen wieder die kleine Ameise, die gerade ein zehnmal so großes grünes Blatt auf ihrem Rücken trug und vor ihren kleinen Insektenfreunden anzugeben versuchte. Ihr Dad tat es Joy gleich und beobachtete ebenfalls, was die Tierchen ausheckten. Sie konnten wohl beide die Ablenkung gut gebrauchen. Doch eine Sache brannte Joy schon lange auf der Zunge und es war das erste Mal, dass sie wirklich die Gelegenheit dazu hatte, eine Antwort zu erhalten. Das erste Mal und womöglich auch ihre letzte Chance. Niemand wusste, wie der morgige Tag enden würde.

„Dad?", entschloss sie sich schweren Herzens, ihn zu fragen. „Warum hast du es getan?"

Verwundert drehte ihr Dad seinen Kopf und sah sie an.

„Der Schatz?", fragte er.

Joy nickte. Ihr Dad stöhnte, dann setzte er sich ein wenig in seinem Bett auf. Er drückte seine Kissen zurecht, dann sah er Joy ernst an.

„Joy, du hast keine Vorstellung, wie mächtig Henry gewesen wäre, wenn er diesen Schatz besessen hätte. Das Ausmaß der Grausamkeiten, die gefolgt wären, entzieht sich vermutlich unserer aller Vorstellungskraft. Das konnte ich einfach nicht zulassen, Joy. Weißt du, es ist nicht so, wie man es sich vielleicht vorstellt, dass Piraten jeden Tag Schätze erbeuten und im Reichtum schwimmen. Meistens haben wir einfach das erbeutet, was wir zum Leben brauchten. Man darf schließlich nicht vergessen, dass auf dem Schiff über achtzig hungrige Männer durchzufüttern waren. Hin und wieder hatten wir Glück und kenterten ein reiches Händlerschiff. Davon konnten wir es uns eine Weile gut gehen lassen, wenn wir die Waren verkauften. Aber nichts, wirklich gar nichts, war mit diesem Schatz zu vergleichen, den wir an jenem verhängnisvollen Tag erbeutet haben."

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt