Kapitel 103

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„James, ich hol dich hier raus", hörte James wieder dieselbe Stimme flüstern und er traute seinen Ohren nicht. Er musste träumen. War das wirklich John, der da vor ihm stand? James schloss noch einmal die Augen, nur um genau dasselbe Bild zu sehen, als er sie wieder öffnete. War das wirklich real?

„John, was –"

James verstand die Welt nicht mehr. Er hörte, wie John den Schlüssel im Schlüsselloch drehte, bevor mit einem leisen Quietschen die Tür aufschwang. Fassungslos starrte James seinen ehemaligen Freund an, als er in seine Zelle trat und auf ihn zukam.

„Was – John, Mac..."

James brachte keinen vollständigen Satz heraus. Er war vollkommen überrumpelt. Sein Verstand schaffte nicht zu verarbeiten, was hier gerade passierte.

„Mach dir keine Sorgen. Um Mac hab ich mich gekümmert", beantwortete John James' ungestellte Frage.

James schluckte. John hatte sich darum gekümmert. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. James wusste, was das bedeutete und er wusste auch, dass John ganz sicher nicht darüber reden wollte. Also hakte er nicht weiter nach.

„Warum tust du das?", fragte er stattdessen verwundert, als John sich an seinen Ketten zu schaffen machte.

„Halt die Klappe und steh auf", meinte John nur und sah James eindringlich in die Augen, während er die Ketten leise zu Boden legte.

Als er James' kümmerlichen Versuch erkannte, auf die Beine zu kommen, griff er ihm kurzerhand unter die Arme und zog ihn nach oben. Schmerzerfüllt stieß James Luft durch die zusammengebissenen Zähne, als sein Rücken unsanft in die Länge gezogen wurde. Unsicher stand er auf seinen schwachen Beinen. Ein gewaltiger Schwindel überkam ihn. Nur langsam brachte er die sich drehende Umgebung zum Stillstand. Aber er verstand noch immer nicht, was John hier in seiner Zelle zu suchen hatte. Verwundert sah er seinem ehemaligen Freund in die Augen.

John stöhnte.

„Okay. Es tut mir leid, dass ich deine Tochter geschlagen habe, James. Du weißt, ich hatte keine andere Wahl", sagte er in die Stille hinein.

Das war alles. Mehr sagte er nicht. Keine Erklärung. John war noch nie ein Mann großer Worte gewesen, daher erwartete James auch gar nicht, dass er weitersprach. Für den Moment war es wohl das gewesen, was John auf dem Herzen lag. Es war alles, was er James vorerst zu sagen hatte. Für mehr war nun auch keine Zeit. John drehte sich bereits um und verließ die Zelle, darauf wartend, dass James ihm folgte.

„John, ich gehe nicht ohne Annie", merkte James an, ohne sich einen Schritt vorwärts zu bewegen. „Hol sie da raus", forderte er.

„Nein John", hörte er dann jedoch den leisen Ausruf von nebenan. Annie? Wieso um alles in der Welt widersprach sie ihm? Schockiert starrte James in die andere Zelle, in der Annie ans Gitter getreten war.

„Annie!", stieß er fassungslos aus.

„James, ich... ich kann nicht." Betreten sah sie zu Boden. „Es tut mir leid."

Langsam hob sie wieder ihren Kopf und schaute ihn mit großen Augen an. So langsam verstand James gar nichts mehr. War das alles vielleicht doch nur irgendein wirrer Traum? Spielte sein Unterbewusstsein ihm etwas vor, aus Angst vor den Qualen, die ihm bevorstanden? Doch dann sprach Annie weiter.

„Wenn ich dieses Schiff verlasse, verschwindet es in der Vergangenheit, ist das nicht wahr, John? Dann habe ich – und John – dann haben wir beide keine Möglichkeit mehr, zu unseren Familien zurückzukehren."

Verwundert starrte James John an. Er konnte nicht fassen, was er hörte. War das die Wahrheit?

„Sie hat Recht, James. Sie ist das einzige, was das Schiff hier hält. Hier zwischen den Zeiten. Für sie ist die Pforte zur neuen Zeit geöffnet, die Henry nutzt, um in deine Zeit zu kommen. Verlässt Annie das Schiff, schließt sich die Pforte und das Schiff verschwindet mitsamt seiner bestialischen Mannschaft in der Vergangenheit. Es gehört nicht hierher."

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt