Kapitel 86

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Joy sah ihren Dad aus traurigen Augen an. Sie wusste, dass es ihm das Herz brechen musste, sie so zu sehen und ihr all das, was er sechzehn Jahre lang verschwiegen hatte, so plötzlich und ohne Vorwarnung erzählen zu müssen. Es konnte nicht leicht für ihn sein. Er musste ein unheimlich schlechtes Gewissen haben, dass sie in dieser ganzen Situation auf diesem Schiff feststeckte, ohne eine Ahnung davon zu haben, was eigentlich dazu geführt hatte. Sie hatte nicht den kleinsten Schimmer, was es mit der Vergangenheit ihres Dads auf sich hatte. Offensichtlich befand sie sich allen Ernstes alleine seinetwegen auf diesem Schiff. Black Soul schien tatsächlich Recht zu haben, so schrecklich das auch war. Ihr Dad war schuld daran, dass Joy hier war und dass sie so mies behandelt wurde. Auch wenn es ganz sicher keine böse Absicht von ihm gewesen war, es war seine Schuld. Und das zerfraß ihn von innen. Das erkannte Joy genau. Dennoch konnte sie nichts dagegen tun. Überhaupt nichts. Das einzige, was sie im Moment tun konnte, war, ihrem Dad zuzuhören und dabei zu versuchen, irgendwie die Fassung zu bewahren. Sie würde versuchen, ihm nicht zu zeigen, wie sehr ihr das alles zu schaffen machte.

„Ich habe damals für Henry gearbeitet, Joy", ließ ihr Vater jedoch gleich zu Beginn eine Bombe katastrophalen Ausmaßes platzen.

Joy zog schockiert die Augenbrauen nach oben. Jede andere Reaktion versuchte sie, in ihrem Inneren zu verbergen. Dort tobte noch immer ein Sturm, den sie mit aller Kraft unterdrückte. Ihre Gedanken versuchten zu verstehen, was ihr Vater gerade erzählt hatte, doch sie hatte inzwischen aufgegeben, irgendetwas zu hinterfragen. Wenn ihr Dad ihr erzählte, dass er für Black Soul gearbeitet hatte, dann war es wohl die Wahrheit. Egal, wie unmöglich es schien.

„Es war nicht ganz freiwillig, glaube mir", sprach ihr Dad weiter und Joy erkannte das Grauen in seinem Blick. „Aber ja, ich war ein Pirat."

„Und was für einer!", fiel ihm Black Soul lachend ins Wort.

Joy gefror das Blut in den Adern.

Ihr Vater. Ein Pirat. Und was für einer. Sie schluckte.

Es wurde immer schwieriger, den Sturm in ihrem Inneren irgendwie im Zaum zu halten. Verzweifelt versuchte sie, alles, was sie bisher gehört hatte, zu einem Bild zusammenzufügen, doch sie scheiterte kläglich daran. Ihr Verstand hatte aufgehört, zu funktionieren. Sie nahm nur noch eine Information nach der anderen auf, jede zu unglaubwürdig, um ihr bei klarem Verstand Glauben schenken zu können. Also war ihr Verstand in den Hintergrund gerückt. Es zählte nur noch, nicht die Fassung zu verlieren.

Ihr Dad stöhnte. Er atmete ein paar Mal tief durch. Er schien mit seinen nächsten Worten zu ringen, ebenso wie mit Black Souls Kommentar. Black Soul schien demnach Recht zu haben. War ihr Dad wirklich ein so guter Pirat gewesen? Was genau bedeutete das überhaupt? Was musste man können, um ein guter Pirat zu sein? Joy erlaubte sich gar nicht, weiter darüber nachzudenken, als ihr der Gedanke in den Sinn kam, dass Piraten in Schlachten andere Menschen töteten. Mit großen Augen starrte sie ihren Vater an, der ihr plötzlich so unheimlich fremd war. Wer war der Mann, den sie ihren Dad nannte? Im Moment war er ein heruntergekommenes Wrack. Sein stark geschundenes Äußeres passte schmerzlich zu Joys gestörtem Inneren. Und so wie ihr Dad sie ansah, war ihm nur allzu bewusst, dass sie komplett überfordert war mit der Gesamtsituation. Wie sollte es denn auch anders sein? Gefangene auf einem scheinbar echten Piratenschiff, umgeben von scheinbar echten Piraten, einer Wahrheit ausgeliefert, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war, von der sie niemals überhaupt geahnt hätte, dass sie existierte, ein Kind aus einer anderen Zeit, das überhaupt nicht ins Sydney des 21. Jahrhunderts gehörte, in dem sie lebte. Aber wo gehörte sie denn dann hin? Wer war sie überhaupt? Und wer um alles in der Welt war ihr Dad? Wer war er? Ein Pirat? Ihr Dad? Das war einfach nicht möglich.

„Mach ruhig weiter, James. Ich will den Rest der Story hören. Ich will es wirklich hören. Wie hast du es angestellt und warum?"

Black Soul trat näher auf ihren Dad zu.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt