Kapitel 66

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Joy saß noch immer regungslos am Mast. Bear hatte fürchterlich geflucht, als sie sich auf seine Füße übergeben hatte. Doch sie hatte es schlichtweg nicht zurückhalten können. Zu gewaltig waren die Emotionen und all die Anspannung gewesen. Noch immer spukte das Bild ihres bis aufs Blut misshandelten Dads durch ihren Kopf. Sie schaffte es einfach nicht, es zu verdrängen. Es hatte sich wie ein Brandmahl in ihr Gedächtnis gebrannt.

Die Sonne prallte gnadenlos auf Joy herab. Sie sehnte sich so sehr nach Wasser! Sie war am Verdursten!

Glücklicherweise war Bear einfach nur fluchend verschwunden. Sie hatte schon seine Faust im Gesicht befürchtet. Doch wenigstens das war ihr erspart geblieben. Seither saß sie mehr oder weniger alleine da. Die Männer um sie herum beäugten sie interessiert, lachten über sie, wagten jedoch nicht, ihr zu nahe zu kommen. Black Souls Aufschrei bei ihrer Ankunft auf dem Schiff hatte wohl gereicht, ihnen Respekt einzujagen. Joy war heilfroh darum. Es war bereits erniedrigend genug, hier sitzen zu müssen und von allen Seiten beobachtet zu werden. Erniedrigend und absolut beängstigend!

Unruhig verfolgte sie das Geschehen um sie herum. Jedes Mal, wenn ein Mann sich ihr näherte, stockte ihr der Atem und Schweiß trieb ihr auf die Stirn. Die Hitze war unerträglich und die Anspannung tat den Rest dazu. Sie hatte furchtbare Angst, wieder von irgendjemandem begrabscht zu werden – oder Schlimmeres. Immerhin war sie hier auf einem Schiff voller Männer und sie war diesen offensichtlich rauen Männern hilflos ausgeliefert. Immer wieder beobachtete sie, wie über sie geredet und mit dem Finger auf sie gezeigt wurde. Doch eine Sache war merkwürdig. Da war er wieder. Ein Junge. Schon vor ein paar Minuten war er vorsichtig an ihr vorbeigeschlichen. Unauffällig hatte er sie von der Seite angestarrt. Er musste in ihrem Alter sein. Seine Kleidung war zerrissen und sein Körper übersät von blauen Flecken. Was hatte er auf diesem Schiff zu suchen? War auch er ein Gefangener? War er einer der Piraten? Oder ein Sohn eines der Piraten? Joy hatte beobachtet, wie er plötzlich von einem der Männer eine gescheuert bekommen hatte und grob verscheucht worden war.

„Verschwinde hier!", hatte der Pirat gezischt.

Erschrocken war der Junge zusammengezuckt und hinter einem Stapel Fässer verschwunden. Seither hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Doch da war er wieder. Wieder schlich er langsam an ihr vorbei. Heimlich ließ er seinen Blick zu ihr hinübergleiten und musterte sie interessiert. Joy entgegnete seinem Blick und beobachtete, wie er ertappt zu Boden sah. Hastig verschwand er, um kurz darauf mit einem Putzeimer und einem Schwamm zurückzukommen. Vorsichtig kniete er sich auf seine dürren Knie und begann von Hand den Boden zu schrubben. Immer wieder sah er zu ihr hinüber. Putzte er den Boden nur, um sie beobachten zu können?

Wieder kam ein Mann auf sie zu. Sie bemerkte ihn erst gar nicht, so sehr war sie auf den Jungen fixiert. Doch plötzlich schob sich ein Schatten über sie. Sie sah, wie der Junge sie entsetzt anstarrte. Erschrocken blickte sie auf. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und ihre Muskeln spannten sich an. Ein kahlköpfiger Mann mit dicker Narbe im Gesicht stand direkt über ihr.

„Na wen haben wir denn da? Du musst Joy sein", säuselte er mit einer überraschend hellen Stimme.

Joy zuckte zusammen. Ihr Herz raste. Was wollte dieser Mann von ihr?

Am liebsten hätte sie um Hilfe geschrien, doch was hatte das hier auf diesem Schiff für einen Sinn? Niemand würde kommen, um sie zu retten. Sie war eine Gefangene und die Männer um sie herum kümmerte es vermutlich nicht im Geringsten, wie es ihr ging. Joy schluckte. Unsicher stellte sie ihre Knie auf. So fühlte sie sich wenigstens ein kleines bisschen weniger ausgeliefert. Immerhin ihr Bauch war so geschützt. Provokativ sah sie zu Boden. Der Mann sollte einfach wieder verschwinden. Bitte, er sollte einfach wieder verschwinden!

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt