„Sir?"
James öffnete langsam seine geschwollenen Augen. Wer redete da? Es war eine zarte Mädchenstimme. Träumte er? War es Joy? War Joy hier? War doch alles nur ein Albtraum gewesen? Ein riesengroßer, schrecklicher Albtraum? Aber Joys Stimme hätte er erkannt. Und auch die Schmerzen, die im nächsten Moment in sein Bewusstsein drangen, sagten ihm nur allzu deutlich, dass er nicht geträumt hatte. Er war nicht zu Hause, er lag nicht in seinem Bett, Joy stand nicht neben ihm, um ihn aufzuwecken. Nein, James lag in Ketten auf Henrys Schiff und er war aufs übelste verprügelt worden.
Gequält drehte er seinen Kopf und versuchte sich aufzusetzen. Doch ein stechender Schmerz in der Brust hielt ihn davon ab. Es mussten mehrere Rippen gebrochen sein. Sein Körper fühlte sich an, als wäre jemand mit einem Panzer darüber gefahren – mehrmals. James konnte sich nicht regen und wurde von Schmerzen geradezu überschwemmt, während er langsam wach wurde. Gequält stöhnte er.
„Ihr seid James Andrews, nicht wahr? Der Mann, der –" Die Stimme stockte.
Das war wirklich kein Traum! James drehte seinen Kopf noch ein wenig weiter, schob sich mit aller Kraft von der Wand weg und drehte seinen Körper zur Zelle links neben ihm. Von dort glaubte er die Stimme zu hören. Verschwommen sah er die Umrisse eines Mädchens, das schüchtern durch das Gitter zu ihm hinüber blickte. Er kniff kurz die Augen zusammen, ungläubig über das Bild, das sich ihm bot. Ein Mädchen? Hier auf dem Schiff? In der Zelle neben ihm? Träumte er wirklich nicht? Doch als er die Augen wieder öffnete, hatte sich das Bild nicht verändert. Das Mädchen stand noch immer da und sah ihn verunsichert an. Es schien ein feines Kleid aus Seide zu tragen, das jedoch vom Dreck der Zelle übersät war. Das Mädchen war jünger als Joy, vielleicht 12 Jahre, schätzte James. Sie hatte ein zartes Gesicht und langes, leicht gewelltes blondes Haar, das jedoch schon ziemlich zerzaust aussah. Wie lange war sie schon hier? Und wer war sie?
„Wer –"
Er hustete. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Hals war trocken und jeder Ton schmerzte in seiner Brust.
„Wer bist du?", quälte er sich die wenigen Worte heraus und krampfte sich dabei voller Schmerzen zusammen. Das Mädchen sah ihn mit großen besorgten Augen an.
„Ihr seht nicht gut aus, Sir. Ich wünschte, ich könnte Euch irgendwie helfen. Diese Männer sind so grauenvoll. Was haben sie Euch nur angetan?", kommentierte das Mädchen besorgt seinen miserablen Zustand.
James konnte immer noch nicht so recht fassen, was er vor sich sah. Das Mädchen selbst schien unversehrt, soweit er das beurteilen konnte. Das erleichterte und verwunderte ihn. Noch niemals hatte er einen unversehrten Menschen in diesen Zellen gesehen. Dieses Mädchen musste etwas Besonderes sein. Sie musste Henry irgendetwas bedeuten. Andernfalls sähe sie ähnlich aus wie James. Warum auch immer sie verschont geblieben war, James war heilfroh darüber. Er wünschte niemandem diese Qualen, die er gerade durchleben musste. Die Erinnerung an die letzte Nacht durchzuckte seinen Körper wie ein Gewittersturm und er stöhnte gequält auf.
„Tut mir Leid Sir, das war unhöflich. Ihr habt mich gefragt, wer ich bin. Es tut mir Leid. Ich bin Annie."
Sie trat einen Schritt zurück, einzig und allein, um vor ihm zu knicksen. James sah sie nur verdutzt an.
„Wer... wer bist du?", wiederholte er mit heiserer Stimme seine Frage.
Sie hatte ihm zwar ihren Namen genannt, aber das erklärte noch lange nicht, wer sie war. Wer um alles in der Welt war sie und was machte sie auf diesem Schiff?
Sie war eindeutig aus seiner alten Zeit, das stand außer Frage. Denn sie hatte ihn bei seinem alten Namen genannt, dem Namen, den er abgelegt hatte, als er in diese neue Welt gekommen war. Kaum ein Mensch in dieser Welt kannte seinen wahren Namen. Aber dieses Mädchen kannte ihn. Und sie schien über James Bescheid zu wissen, über das, was er getan hatte. Ihre Kleidung und ihr Verhalten passten ebenfalls in seine alte Zeit. Sie war ganz eindeutig mit dem Schiff hierhergekommen. Aber warum war sie ihm bis jetzt nicht aufgefallen?
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Im Strudel der Zeit - Tödliche Geheimnisse
AdventureJoy liebt ihren Vater über alles. Als er eines Tages, kurz nachdem er der Polizei bei den Ermittlungen in einem Mordfall geholfen hat, spurlos verschwindet, geht für sie eine Welt unter. Noch schlimmer wird es, als die Polizei in seiner Vergangenhei...