Kapitel 36

269 41 35
                                    

Joy war inzwischen an der Straße angekommen. Sie hatte sich nicht lange umsehen müssen, da hatte sie schon gewusst, wo sie war. Sie war in der Sussex Street, unweit des Darling Harbours. Hier war sie tatsächlich im Parkhaus eines Wohnhauses gewesen.

Inzwischen stand sie an der Ampel und sah sich vorsichtig um. So langsam war sie wieder bei sich und hatte es geschafft, die Angst, die sie so plötzlich übermannt hatte, ein wenig von sich zu schieben. Alles schien so normal hier draußen, das half. Einige junge Mütter schoben ihre Kinderwägen vor sich her und unterhielten sich angeregt dabei, die meisten Menschen gingen hektisch ihrer Wege. Das war nicht verwunderlich, mitten in der Innenstadt von Sydney und direkt am Darling Harbour.

Langsam tapste Joy voran, als die Ampel grün wurde. Sie war immer noch wacklig auf den Beinen, ihre Knie fühlten sich an wie Pudding. Teils kam es von der Panik, die sie zuvor überfallen hatte, teils von den Verletzungen, die ihren Körper schwächten. Unbehaglich sah sie sich noch einmal um. Auch wenn sie ihre Angst inzwischen einigermaßen unter Kontrolle hatte, stand ihr Entschluss noch immer fest: Sie brauchte Hilfe.

Ihr Vater war allem Anschein nach entführt worden und wenn sie den Erinnerungsblitz nicht falsch interpretierte, konnte ihr jederzeit dasselbe passieren. Sie musste wissen, was passiert war, und nur Amy oder die Polizei konnten ihr das erzählen. Ihr Handy hatte sie nicht bei sich, also würde sie jemand anderen fragen müssen. Ihr Plan war es, schnell zum Darling Harbour zu gehen, der nur wenige Meter entfernt war. Dort waren viel zu viele Menschen, als dass ihr etwas zustoßen könnte. Dort war sie in Sicherheit – so hoffte sie zumindest.

Zielsicher ging sie über die kleine Brücke nach der Ampel und dann die Stufen hinab zum Darling Harbour. Sie stand nun direkt neben dem Sydney Wildlife, einem kleinen Indoor-Zoo für Touristen. Auf der Holzbank davor saß eine junge Frau. Perfekt. Joy könnte sie nach ihrem Handy fragen. Sie atmete noch einmal tief durch, nahm ihren Mut zusammen und ging mit pochendem Herzen auf die Frau zu. Auf dem Weg zog sie noch einmal ihren Schal zurecht, sodass er ihr Pflaster gut verdeckte. Ihren Hut hatte sie locker auf dem Kopf sitzen. Die Sonne prallte mit voller Kraft auf sie herab und das konnte sie in ihrem momentanen Zustand gar nicht gebrauchen.

An der Bank angekommen stellte sich Joy vor die Frau, die kurz aufblickte und dann in eine andere Richtung schaute. Von der Plakatwand hinter der Bank strahlten Joy glückliche Gesichter entgegen, Koalas und Kängurus und eine Nicole Kidman, die für das Wachsfigurenkabinett, das sich ebenfalls im Gebäude befand, warb.

„Entschuldigung", begann Joy unsicher. Die Frau drehte verwundert ihren Kopf zu ihr und sah sie fragend an. „Kann ich einen Moment Ihr Handy benutzen? Ich hab meins verloren und muss unbedingt jemanden anrufen."

„Ähm –", die Frau überlegte einen Moment.

Menschen trauten einander heutzutage nicht mehr. Joy bemühte sich so freundlich zu lächeln, wie ihr Zustand es zuließ. Sie musste fürchterlich aussehen, so fühlte sie sich zumindest. Hoffentlich konnte sie trotzdem einen vertrauenswürdigen Eindruck erwecken.

„Es geht auch wirklich schnell", versicherte sie der Frau.

Die Frau stöhnte kurz, dann kramte sie tatsächlich in ihrer Handtasche.

„Natürlich. Hier, bitte. Wenn es schnell geht."

Misstrauisch beobachtete sie, wie Joy erleichtert das Handy entgegen nahm.

„Vielen Dank! Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr Sie mir damit helfen!", bedankte sich Joy überschwänglich und öffnete sofort die Wahltasten.

Gerade wollte sie Amys Nummer wählen, da musste sie entsetzt feststellen, dass sie sie nicht wusste. So ein Mist, die Nummer war in ihrem Handy eingespeichert. Es war nie nötig gewesen, die Nummer auswendig zu können. Joy spürte, wie die Frau sie beobachtete. Sie drehte sich kurz zu ihr und lächelte sie möglichst lässig an, um ihre Unsicherheit zu überspielen, dann drehte sie sich wieder weg. Was sollte sie jetzt nur tun? Ihr Plan war es gewesen, Amy anzurufen, sodass die sie abholen und ihr alles erzählen konnte.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt