Epilog

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Drei Wochen waren seit der Entführung vergangen. Joy hatte vor eineinhalb Wochen das Krankenhaus verlassen dürfen. Sie wäre nach ein paar Tagen schon bereit gewesen, doch die Ärzte hatten sichergehen wollen, dass es ihr sowohl physisch als auch psychisch gut genug ging. Daher hatten sie sie eineinhalb Wochen da behalten. Heute wurde endlich auch ihr Dad entlassen. Seit ihrer eigenen Entlassung hatte Joy bei Amy gelebt. Doch jetzt war sie wieder zu Hause und wartete aufgeregt auf die Ankunft ihres Dads.

Sie hatte ihn jeden Tag im Krankenhaus besucht, aber das war nicht dasselbe. Dort waren sie nicht für sich. Immer wieder waren Ärzte oder Krankenschwestern hereingekommen. Regelmäßig war sie auf Detective Hansson gestoßen, der ihren Dad auf dem Laufenden hielt oder Informationen von ihm brauchte. Der Prozess gegen Black Soul würde bald beginnen und ihr Dad sollte darin aussagen. Außerdem hatte Joy immer der Presse ausweichen müssen. Noch immer waren sie scharf auf ein Interview mit ihr. Joy war, wie sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte feststellen müssen, fast ein kleiner Star in Sydney. Jeder hatte diese schrecklichen Videos gesehen. Und jeder wollte ihre Geschichte hören. Doch dazu war sie ganz sicher nicht bereit. Sie hatte gerade mal die ersten zwei Therapiesitzungen bei dem Psychologen hinter sich. Und bisher hatte sie ihm kaum etwas erzählt. Sie war einfach noch nicht so weit. Dr. Drownes hatte gemeint, das sei ok. Solche Dinge bräuchten ihre Zeit. Und sie solle sich von niemandem drängen lassen. Joy hielt sich daran. Dr. Drownes war wirklich in Ordnung. Ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie fühlte sich von ihm ernstgenommen und hoffte, dass er ihr tatsächlich helfen konnte, ihre grausamen Erinnerungen zu verarbeiten.

Auch Amy hielt sich erstaunlich gut daran, Joy nicht zu drängen, sondern geduldig abzuwarten, bis Joy selbst bereit war. Joy wusste, dass Amy platzen musste vor Neugier, was alles geschehen war. Doch sie sprach Joy nie darauf an. Sie ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Joy rechnete ihr das wirklich hoch an! Sie hatte ihr noch nicht einmal anvertraut, dass sie aus einer anderen Zeit stammte. Es gehörte allerdings zu den Dingen, die sie fest vorhatte. Amy sollte es erfahren. Als einzige ihrer Freundinnen und aller Menschen dieser Zeit. Joy musste sich nur noch überlegen, wie sie es ihrer Freundin schonend beibringen konnte.

In den letzten drei Wochen hatte Joy viel mit ihrem Dad über alles gesprochen. Er war ihr geduldig Rede und Antwort gestanden und sie hatte viele interessante Dinge erfahren. Auch Rosemary Clint hatte sie endlich kennen gelernt, als sie ihren Dad an einem Nachmittag besucht hatte. Es war unvorstellbar, dass Joy Rosemarys Ur-ur-ur-sonstnochwas-Großcousine war! Aber es fühlte sich so gut an! Endlich hatte Joy Verwandtschaft, so wie jeder normale Mensch auf dieser Welt – auch wenn der Verwandtschaftsgrad vielleicht nicht ganz normal war.

Während Joy nun auf dem Sofa in der Sonne saß, dachte sie plötzlich an ihre Mum und ihr kam eine Erinnerung, die in all der Aufregung der Entführung untergegangen war. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, aber sie erinnerte sich, wie sie auf diesem Sofa gelegen und das Gefühl gehabt hatte, ihre Mutter hätte sie berührt. Ganz sanft gestreichelt. Langsam schloss Joy die Augen und spürte die Sonne auf ihrer Haut. Seit sie die Wahrheit um ihre Mutter kannte, war sie ihr viel vertrauter. Es war seltsam, aber es war fast so, als hätte sie immer geahnt, dass etwas nicht stimmte. Als wäre ihre Mutter ihr dadurch immer fremd geblieben. Natürlich lag es aber auch daran, dass ihr Dad, seit Joy über alles Bescheid wusste, immer wieder von ihrer Mum erzählte. Joy liebte es, die wenigen Geschichten zu hören und sie fügte sie zu einem Bild zusammen. Endlich hatte sie eine Mum! Joy wurde bei dem Gedanken ganz warm ums Herz. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter immer bei ihr war. Sie war auch in diesem Moment hier bei ihr. In jeder wärmenden Berührung der Sonnenstrahlen, in jedem sanften Windhauch, in jedem Funkeln der Sterne bei Nacht. Ihre Mum war bei ihr und gab auf sie Acht. Sie war ein Teil ihres Herzens und das würde sie immer sein. Eine kleine Träne kullerte über Joys Wange. Eine Träne aus Liebe. Liebe zu ihrer Mum, die sich für ihr Leben geopfert hatte. So sehr hatte sie Joy geliebt. Joy würde ihr Andenken für immer ehren!

Da öffnete sich plötzlich die Tür und das Geräusch riss Joy aus ihren Gedanken. Sofort stand sie senkrecht und rannte zum Flur. Ein Polizist trat herein, dahinter stand ihr Dad.

„Dad!", rief Joy überglücklich und der Polizeibeamte trat hastig einen Schritt zur Seite, während sie auf ihren Dad zustürmte und ihn überschwänglich umarmte. Er stöhnte unter ihrem Gewicht, doch das war ihr egal.

„Dad, ich habe alles vorbereitet", meinte sie, während sie ihn an die Hand nahm und in die Wohnung zog. „Dein Bett ist gemacht, der Kühlschrank ist voll, das Abendessen für heute Abend hab ich auch schon gekocht. Es steht im Kühlschrank, wir müssen es uns nur noch aufwärmen. Und –"

„Joy", unterbrach ihr Dad sie sanft.

~

Augenblicklich hielt Joy inne und sah ihn fragend an. Er lächelte sie an und sie grinste zurück. Es war das strahlende Lächeln, das ihn, als er durch die Hölle gegangen war, am Leben gehalten hatte. Seine Joy. Seine über alles geliebte Joy, die jede Dunkelheit zum Strahlen bringen konnte. In diesem Moment wusste er, dass alles wieder gut werden würde. Sie hatten das Schlimmste überstanden und den Rest würden sie gemeinsam meistern. Er nahm Joy an der Hand und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ich hab dich so lieb, Joy", hauchte er.

Joy strahlte ihn in einer Glückseligkeit an, dass ihm das Herz aufging.

„Ich hab dich auch lieb, Dad."

~

Am liebsten hätte Joy den Moment eingefroren. Er war perfekt! Sie waren endlich wieder vereint. Ihr Dad, ihre Mum und sie. Ihre kleine Familie aus dem 18. Jahrhundert. Und niemand würde daran jemals etwas ändern können. Joy würde noch eine ganze Weile an allem zu knabbern haben, was sie erlebt hatte. Aber sie würde es schaffen. Denn sie war eine Lockwood, wie ihr Dad – der gute Pirat, ein Held.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt