Kapitel 74

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Joy war vollkommen durch den Wind. Sie wollte nicht wahrhaben, was der Junge gesagt hatte, und doch wusste sie, dass es die einzig logische Erklärung für alles war. Vermutlich war es die Realität, doch sie war noch nicht zu hundert Prozent bereit, das zu akzeptieren. Völlig überfordert machte sie sich an ihren Fußfesseln zu schaffen. Entsetzt starrte der Junge sie an.

„Was machst du da?", fauchte er sie an.

„Es tut mir Leid", sagte sie. „Ich muss hier weg. Ich muss hier einfach weg."

Panisch zog sie an dem Knoten, bis er endlich nachgab, und zog das Seil von ihren Füßen. Ben war verzweifelt dazwischen gegangen, doch sie hatte ihn mit voller Wucht nach hinten geworfen.

„Bist du verrückt?", zischte der Junge und starrte sie entsetzt an. „Willst du uns beide umbringen?"

Schockiert starrte Joy ihn an. Nein, sie wollte niemanden umbringen. Ganz sicher nicht. Sonst wäre sie niemals hergekommen. Aber jetzt gerade wollte sie einfach nur hier weg. Im Weglaufen war sie gut, das hatte sie die letzten beiden Tage immer wieder unter Beweis gestellt. Wieso sollte sie es nicht noch einmal schaffen?

„Komm doch einfach mit", schlug sie verzweifelt vor. „Komm mit mir. Bei uns wird es dir nicht schlecht ergehen. Es gibt bei uns Einrichtungen für Jugendliche wie dich. Du musst hier nicht auf der Straße leben. Komm einfach mit!", versuchte sie ihn zu überzeugen.

Doch Ben schnaubte sie nur wütend an.

„Du wirst uns beide umbringen", fluchte er.

Wacklig kam Joy zum Stehen. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Hektisch sah sie sich um. Wo konnte sie hin? Was sollte sie tun? Da fiel ihr die Luke ins Auge. Dad!, dachte sie. Ohne lange zu überlegen, schlich sie vorsichtig in Richtung Luke.

„Was machst du denn da, verdammt?", zischte der Junge ihr hinterher. „Da kann dich jeder sehen!"

Doch Joy war schon dabei, die Luke zu öffnen. Erschrocken hörte sie ein Quietschen. Ihr Puls schlug höher und sie hielt inne. Hatte jemand sie gehört? Wie in Zeitlupe öffnete sie die Luke noch einen weiteren Spalt, dann schlüpfte sie vorsichtig hindurch, als sie gerade so hindurchpasste. Ganz sachte schloss sie die Luke über sich wieder, als ihr ganzer Körper endlich hindurch war. Es war so unbeschreiblich befreiend, sich wieder bewegen zu können! Auch wenn alle ihre Glieder schmerzten, war es das schönste Gefühl der Welt. Doch das war jetzt nebensächlich. Vorsichtig tastete sie die Stufen unter sich ab. Es war stockdunkel hier.

„Dad?", flüsterte sie, als sie unten angekommen war. „Dad?"

„Joy?", hörte sie die erschrockene Stimme ihres Vaters, gefolgt von dem Klirren von Ketten, das Joy zusammenzucken ließ. Voller Entsetzen dachte sie daran zurück, dass ihr Dad angekettet war.

„Dad, lass uns gehen. Ich will weg von hier!", erklärte sie verzweifelt, als sie an dem Gitter ihres Vaters angekommen war.

„Joy, wie –" Ihr Dad hielt inne. „Joy, ich komm hier nicht weg", erklärte er gefasst.

„Nein, Dad. Ich geh nicht ohne dich. Ich hole dich da raus!", widersprach sie verzweifelt und rüttelte am Gitter.

„Joy, hör auf damit!", ermahnte ihr Dad sie. „Du verrätst dich nur. Das ist viel zu laut."

Wie eine Verrückte zog Joy trotz allem weiter am Gitter. Zwar hatte sie nach dem grauenvollen letzten Tag kaum noch Kraft in ihren Gliedern. Doch sie hatte ganz bestimmt nicht vor, jetzt aufzugeben. Sie konnte es einfach nicht ertragen, ihren Dad dort eingesperrt zu wissen. Und noch weniger konnte sie den Gedanken ertragen, ohne ihn hier wegzugehen.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt