Kapitel 116

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Noch immer gruben die Piraten nach dem Schatz. Joy hörte, wie hinter ihr die Schaufeln in den Boden stachen. Sehen konnte sie sie nicht mehr. Die Piraten gruben nun die andere Hälfte der Lichtung um, zu der sie mit dem Rücken saß. Eigentlich war Joy froh darüber, die Männer aus ihrem Blickfeld zu haben. So hatte sie wenigstens für eine Weile ihre Ruhe, die sie wirklich dringend brauchte.

Fassungslos starrte Joy auf die durchlöcherte Lichtung vor ihr. Wie tief hatte ihr Dad den Schatz wohl vergraben? Gruben die Männer tief genug? Joy hatte den Verdacht, dass Black Soul seine Entscheidung, sie anstelle ihres Dads mitgenommen zu haben, so langsam bereute. Ihr Dad hätte ihm genau zeigen können, wo er den Schatz vergraben hatte. Dann hätte Black Soul sich all das hier ersparen können. Er hätte den Schatz schon längst in seinen Händen. Aber er hatte ja andere Pläne gehabt. Wenn er ihrem Dad wenigstens mehr Zeit gelassen hätte, ihr zu erklären, wo genau der Schatz war. Oder ihr die Möglichkeit gegeben hätte, nachzufragen. Aber er hatte zu viel Freude daran gehabt, sie beide zu quälen. Und so musste er jetzt für seine eigene Rachgier bezahlen. Es geschah ihm nur recht. Seine Männer gruben und gruben. Und Joy war ganz sicher nicht die einzige, die sich inzwischen Sorgen machte, ob der Schatz überhaupt noch zu finden war.

„Na, Kleine, genießt du die Aussicht?"

Wie sehr Joy es hasste, immer als Kleine angesprochen zu werden! Außerdem hatte sie den Moment der Ruhe wirklich genossen. Schnaubend versuchte sie, ihre Wut herunterzuschlucken. Die Stimme kam ihr bekannt vor, doch sie konnte sie nicht zuordnen. Müde sah sie auf. Es war Bill. Er schien sich eine Pause vom Graben zu gönnen. Sein Oberkörper glänzte vom Schweiß, vermischt mit dem Dreck der Erde, in der er seit gefühlten Stunden grub.

„Wir finden den Schatz", erklärte er dann siegessicher. „Es ist nur eine Frage der Zeit. Und dann geht es dir, Kleine, an den Kragen. Aye, ich bin sehr gespannt, was dein Daddy sagen wird."

Joy versuchte bitterlich, Bill und seine Worte zu ignorieren. Sie konnte jetzt beim besten Willen niemanden brauchen, der ihr den Ernst ihrer Situation von neuem darlegte. Stöhnend schloss sie die Augen und gab sich einen Moment ihrem überwältigenden Schwindel hin.

„Hast du keine Lust, mit mir zu reden?", fragte Bill mit gespielt beleidigter Stimme. Er kniete sich zu ihr und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Widerwillig sah sie ihn an. „Willst du nicht ein bisschen Gesellschaft in den letzten Stunden deines Lebens? Sitzt hier so alleine, niemand kümmert sich um dich." Eindringlich sah er sie an. Erschöpft, wie sie war, fiel es ihr schwer, seinem Blick standzuhalten. Die Schmerzen in ihrem Kopf und ihrem Kiefer waren noch immer kaum zu ertragen. „Ich setz mich gerne ein bisschen zu dir, wenn du willst."

Joy wollte sofort Nein sagen, doch da saß er schon. Die Löcher, die die Piraten gegraben hatten, hatten sie jeweils mit der Erde des nächsten Loches wieder gefüllt. So war die Erde neben Joy komplett umgegraben, aber es waren keine Löcher mehr zu sehen.

„Weißt du, wir warten seit sechszehn Jahren auf diesen Moment. Eigentlich kannst du dich geehrt fühlen, dass du dabei sein darfst."

Fassungslos sah sie ihn an. Er bestand nur aus verschwommenen Konturen vor ihrem Gesicht. Doch seine Worte ließen Wut in ihr aufsteigen.

„Was schaust du mich so an? Hast du eigentlich eine Ahnung, was für ein großer Moment das wird? Er wird in die Geschichte eingehen! Und du darfst dabei sein. Du darfst miterleben, wie wir den Schatz, der uns seit sechzehn Jahren zusteht, endlich zurückbekommen."

Joy schnaubte. „Ja, absolut grandios. Gefesselt an einen Baum. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen", pflaumte sie Bill trotzig an.

Sein Gerede machte sie einfach nur wütend. Der Moment würde nicht historisch werden. Ganz sicher nicht. Sie würde ihr Leben verlieren und die Piraten würden mit einem Schatz verschwinden, mit dem sie sich alle Macht der Welt erkaufen konnten – in ihrer Zeit. Aber von diesem Moment hier auf der Lichtung würde niemand sich jemals erzählen. Er würde in Vergessenheit geraten, hinter all den Gräueltaten verschwinden, die die Piraten mit dem Schatz finanzieren würden. Nein, es war ganz sicher keine Ehre, diesem Moment beizuwohnen.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt