Kapitel 89

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„Ok, hört alle her!", hörte sie Bears gewaltige Stimme im Hintergrund, nachdem er sie am Mast abgesetzt und gefesselt hatte. „Ihr lasst sie in Ruhe, verstanden? Niemand fasst sie an. Sollte jemand es doch tun, bekommt er es mit mir zu tun. Die Kleine soll heute Abend mit dem Käpt'n speisen, dabei soll sie bei klarem Verstand sein. Haben das alle verstanden?"

Joy weinte nur noch mehr, als sie die Worte und die brummende Zustimmung der Männer hörte. Mit dem Käpt'n speisen. Wie konnte Black Soul das nur von ihr verlangen? Wie konnte er nur von ihr verlangen, dass sie mit ihrem Mörder zu Abend aß? Ihrem Mörder. Immer wieder schwebte dieses Wort durch ihre wirren Gedanken. Sie würde sterben. Der Gedanke nahm ihren ganzen Körper ein. Bear hatte ausnahmsweise ihre Füße nicht gefesselt, doch das machte keinen Unterschied, denn sie war unfähig, sich zu bewegen. Der Schock steckte noch immer in sämtlichen Gliedern. Sie war wie gelähmt.

Erschüttert stöhnte sie in ihren Knebel. So fühlte es sich also an, zu wissen, dass man sterben würde. Es war kein schönes Gefühl. Nein, ganz und gar nicht. Vor allem, wenn man wusste, dass man ermordet werden sollte. Kein natürlicher Tod, sondern ein Mord! Das war noch um ein Vielfaches schlimmer! Wie sollte man denn mit so einem Wissen umgehen? Verzweifelt versuchte sie, ihre Tränen in den Griff zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihren viel zu frühen Tod.

Da sah sie aus den Augenwinkeln Bear näherkommen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Sofort befürchtete sie, wieder zu Black Soul geholt zu werden. Vielleicht hatte Black Soul ja noch etwas vergessen? Vielleicht wollte er sie noch ein bisschen länger quälen? Doch dann war Bear weit genug, dass Joy erkannte, dass er nicht alleine war. Im Schlepptau hatte er ihren Vater, den er menschenunwürdig hinter sich herzog. Es brach Joy das Herz, das mit ansehen zu müssen. Da entdeckte sie, dass ihr Dad sogar die Augen geöffnet hatte! Sein erschöpfter Blick traf sie wie ein Blitz.

„Ngng", schluchzte sie. Die Augen ihres Dads waren leer, sein Blick vollkommen abwesend. Es traf Joy mitten ins Herz.

Wenig später öffnete Bear bereits die Luke und zog ihren Dad in den Kerker hinunter. Joy brach innerlich zusammen. Alles war vorbei. Ihr Dad schien nur noch halb am Leben zu sein und sie selbst stand bereits an der Kante zu ihrem Tod. Warum konnte sie nicht einfach aufhören zu atmen? Dann hätte das alles endlich ein Ende. Dann hätte sie es einfach hinter sich. Sie würde doch sowieso sterben. Wieso also nicht gleich hier und jetzt? Damit würde sie vermutlich nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Dad jede Menge Leid ersparen. Denn dann hatte Black Soul nichts mehr gegen ihren Dad in der Hand.

Joy konnte selbst nicht fassen, welch grauenvolle Gedanken in ihrem Gehirn Gestalt annahmen. Aber sie hatte einfach keine Lust mehr. Sie wollte nicht mehr die Zielscheibe sein für die gehässigen Spielereien und Provokationen von Black Soul. Es hatte doch alles keinen Sinn mehr, wenn Black Soul sie am Ende ohnehin töten würde – und das vermutlich auf qualvolle Weise. Diesen langegehegten Traum wollte sie ihm sowieso nicht erfüllen. Die grenzenlose Genugtuung gönnte sie ihm beim besten Willen nicht. Also fasste Joy einen entsetzlichen Entschluss: Sie hielt die Luft an. Sie hielt sie an, ohne überhaupt vorher noch einmal Luft geholt zu haben. Die Wirkung spürte sie sofort. Instinktiv wollte sie wieder einatmen. Doch das verbot sie sich. Verzweifelt und zunehmend gequält zählte sie die Sekunden. Ihr ganzer Körper bebte im Takt ihres Herzens. Es war kaum auszuhalten. Von Sekunde zu Sekunde wurde es schlimmer. Sie wollte unbedingt wieder atmen! Sie brauchte so dringend Luft. Doch sie hielt weiter die Luft an. Ihr wurde schummrig. Alles drehte sich vor ihren Augen, bis sie sie schließlich schloss. Halte noch ein bisschen durch!, flehte sie sich selbst an. Noch ein bisschen. Komm schon, du schaffst das!

Weitere Sekunden vergingen. Ihr war so schummrig! Ihr Kopf dröhnte, ihre Ohren klingelten, es war kaum auszuhalten! Da setzte der Atemreflex ein. Sie verfluchte ihn in jeder erdenklichen Weise, doch sie konnte nichts dagegen tun, denn sie hatte ihre Hände nicht, um ihre Nase zuzuhalten. Resigniert zog sie Luft durch ihre Nasenflügel, kurz bevor sie das Bewusstsein verloren hätte. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt! Sie hatte versagt. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er irgendwo über ihrem Körper schweben. Losgelöst von der Welt. Ihr war so schwindelig. Alles drehte sich. Sie fühlte sich furchtbar. Durch und durch schrecklich. Ein leises Schluchzen entfuhr ihr, das von ihrem Knebel gedämpft wurde. Sie war so unglaublich ausgelaugt von der ganzen Geschichte bei Black Soul. Das war einfach alles zu viel gewesen. Und nun blieb es ihr auch noch verwehrt, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden – und damit Black Soul so richtig eins auszuwischen. Immer wieder hörte sie seine Worte in ihren Gedanken.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt