Kapitel 107

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Die Zugfahrt verzögerte sich. Kurz nach Rockdale hatten sie eine ganze Weile warten müssen. Ein anderer Zug hatte den Streckenabschnitt vor ihnen belegt und sie hatten auf ein anderes Gleis warten müssen. Als sie nun an dem stehenden Zug vorbeifuhren, zog James unwillkürlich den Kopf ein. Polizeibeamte wuselten in und um den Zug herum. Was war hier passiert? James kam nicht umhin zu vermuten, dass es etwas mit Henry zu tun haben könnte. War er der Polizei bereits ins Netz gegangen? War Joy bereits in Sicherheit? Sein Herz ging auf vor Hoffnung. Er musste unbedingt erfahren, was hier passiert war! Er musste wissen, ob Joy in Sicherheit war!

Leider hatte er sein Handy nicht bei sich, um im Internet nachzulesen. Sein Handy hatte er, wenn er sich richtig erinnerte, in der Putzkammer der Universität liegengelassen, als er von Henry überwältigt worden war. Die einzige Möglichkeit, an Informationen zu kommen, war daher jemanden im Zug zu fragen. Vielleicht hatten sie etwas mitbekommen oder konnten selbst im Internet nachlesen? Allerdings kam James' Gesicht einer Horrorfratze gleich. Er hatte es erschrocken angestarrt, als er sich im Fenster des Zuges gesehen hatte. Draußen war es dunkel, das machte das Fenster zu einem perfekten Spiegel. Vermutlich würde er jedem Angst machen, mit dem er sprach. Die ganze Fahrt über versuchte er, zu Boden zu schauen, wann immer jemand an ihm vorbeiging oder in seine Richtung sah. Er konnte wirklich auf die entsetzten Blicke verzichten. Und der Gedanke, dass seine Joy ihn so hatte sehen müssen, tat ihm im Herzen weh. Wie sehr musste sie darunter gelitten haben?

„John, kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte er, um schnell wieder auf andere Gedanken zu kommen. Fragend sah John ihn an. „Kannst du das Mädchen da hinten fragen, ob sie weiß, was mit dem anderen Zug passiert ist?"

John drehte seinen Kopf und sah das Mädchen, das James meinte. Sie war in ihr Handy vertieft, deshalb hoffte James, dass sie vielleicht tatsächlich auf dem neuesten Stand war. Es konnte natürlich auch sein, dass sie einfach nur eines der vielen Spiele spielte, die die jungen Leute heutzutage auf ihren Handys spielten. Trotzdem würde sie zumindest googeln können, wenn John sie nach dem anderen Zug fragte. John sah das Mädchen misstrauisch an.

„Vielleicht war Henry in die Sache mit dem anderen Zug verwickelt", erklärte James ihm seine Gedanken. „Vielleicht müssen wir gar nicht mehr zu dem Schatz, verstehst du? Womöglich wurde Henry bereits aufgehalten."

John verstand sofort. Er nickte und hatte schon kurz darauf das Mädchen erreicht. James beobachtete, wie das Mädchen unentwegt auf Johns vernarbte Burst starrte. Sie schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. Daran hatte James nicht gedacht. Aber noch viel schlimmer wäre es gewesen, wenn er selbst hingegangen wäre. Außerdem schien das Mädchen trotz allem zu antworten. James hoffte inständig, dass sie Informationen hatte. Und noch mehr hoffte er, dass Henry tatsächlich bereits der Polizei in die Arme gelaufen war. Oh es käme einem wahrgewordenen Traum gleich! Wie unglaublich und wunderschön wäre es, wenn Joy bereits in Sicherheit wäre? James' Herz jubilierte alleine bei der Vorstellung! Doch er ermahnte sich selbst zur Zurückhaltung. Seine Hoffnung würde höchstwahrscheinlich enttäuscht werden. Es war Wunschdenken, mehr nicht.

Mit großen Augen kam John schließlich wieder zurück. James konnte kaum erwarten, was er zu erzählen hatte.

„Verdammt, du hattest Recht", flüsterte er aufgeregt. James' Herz schlug sofort höher. „Es war Henry! Sie waren in diesem Zug. Joy hat irgendeine Bremse gezogen und den Zug gestoppt. Dann sind sie davongerannt."

Entsetzt sah James ihn an.

„Davongerannt?"

John nickte. „Es tut mir Leid, James", sagte er trocken.

Alle Hoffnung, die James' Herz noch vor Sekunden erfüllt hatte, brach zusammen wie ein Kartenhaus. Joy war in diesem Zug gewesen. Sie war dort gewesen! Aber sie war trotzdem nicht in Sicherheit. Henry war nicht aufgehalten worden.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt