Kapitel 82

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Amy legte die Fernbedienung wieder zur Seite. Schon seit gestern saß sie nur noch hinter den Nachrichten, ihr Laptop auf dem Schoß, um auch im Internet keine Neuigkeiten zu verpassen. Sie war so verzweifelt. Nachdem die Polizei gestern angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dass Joy entführt worden war, war sie zusammengebrochen und hatte stundenlang nur noch geweint. Sie hatte so furchtbare Angst um ihre Freundin und mit jeder Stunde, die ohne Neuigkeiten verstrich, potenzierte sich ihre Angst. Inzwischen war sie Meisterin im Beten, denn etwas anderes fiel ihr einfach nicht ein, um Joy zu helfen. Lebte sie überhaupt noch? Immer wieder ertappte Amy sich bei diesem düsteren und absolut grausamen Gedanken, der sie in den Tiefen ihres Herzens erschütterte.

„Das darfst du nicht denken! Verdammt, das darfst du gar nicht denken!", ermahnte sie sich jedes Mal. Doch sie hatte wenig Erfolg dabei. Der Gedanke ließ sich einfach nicht vertreiben.

Amys Mutter hatte in den letzten Stunden ihr Bestes gegeben, um sie zu trösten. Sie hatte sich lange mit ihr zusammengesetzt und ihr erklärt, dass Joy eine starke junge Frau sei. Wenn das jemand durchstehen könne, dann sie. Natürlich wusste Amy das. Das musste ihre Mutter ihr nicht erklären. Joy war eine starke junge Frau. Daran bestand kein Zweifel. Sie war so viel stärker als Amy selbst. Doch lag es überhaupt in Joys Händen, ob sie das durchstehen würde? Und was war das überhaupt? Was musste Joy denn durchstehen?

Amy machte es absolut verrückt, nicht zu wissen, wo Joy war und wie es ihr ging. Die Polizei hüllte sich darüber in Schweigen, sowohl in den Medien als auch ihr gegenüber. Sie wollten nicht über laufende Ermittlungen sprechen. So ein Schwachsinn! Amy hatte wohl ein Recht darauf, alles zu erfahren! Sie war Joys beste Freundin! Also klammerte sie sich an alles, was sie kriegen konnte. Und das war einiges. Sowohl im Internet, als auch in den Nachrichten. Und alles, was sie sah und las, ließ sie sprachlos zurück.

In den Nachrichten wurde über kaum etwas anderes mehr berichtet als über die Entführung von Joy und ihrem Dad. Aber hauptsächlich tatsächlich über Joy und die Aktionen, die sie sich gestern geleistet hatte. Amy war fassungslos. Absolut fassungslos! Joy hatte drei Polizeibeamte mit einer Waffe bedroht und eine Geisel genommen? Und das alles nur, um aus einem Zug auszusteigen? Und allem Anschein nach hatte das auch noch zu ihrer Entführung geführt. Wäre Joy nie aus diesem Zug entkommen, wäre sie auch nie entführt worden. Warum nur hatte Joy das getan? Amy verstand die Welt nicht mehr! Augenzeugen hatten berichtet, dass Joy mit ihrer Aktion einen Mord hatte verhindern wollen. Andere sagten, sie hatte ihren Dad retten wollen. Was für ein Mord? Was passierte hier nur und was hatte all das mit Joy zu tun? Verdammt, Joy war doch die liebste Person auf Erden. Wie war es dazu gekommen, dass sie einen Mord verhindern wollte? War es überhaupt die Wahrheit? Wo war ihr Dad? Wusste Joy etwas darüber? Und wie war es zu dieser schicksalhaften Begegnung von Joy und den Polizisten in dem Zug gekommen? Wohin hatte Joy gehen wollen? Wusste sie tatsächlich etwas über James? Fragen über Fragen rasten durch Amys Kopf und sie fand auf keine einzige davon eine Antwort. Und die Polizei schwieg beharrlich. Im Internet dagegen wurde wild spekuliert und Amy hatte schon die verschiedensten Verschwörungstheorien entdeckt. Das Internet zerriss sich das Maul darüber, was die Polizei wohl hatte verschleiern wollen. Wieso ein sechzehnjähriges Mädchen zu solchen Mitteln hatte greifen müssen, nur um einen Mord zu verhindern, was eigentlich die Aufgabe der Polizei sein sollte. Die wildesten Theorien waren entstanden, die Amys Meinung nach jedoch alle keinen Sinn ergaben. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte.

Und dann war da noch der Schuss in der Wohnung gewesen. Hatte Joy ernsthaft eine Waffe abgefeuert und auf jemanden geschossen? Amy erzitterte bei dem Gedanken. Was um alles in der Welt musste passiert sein, dass Joy zu so etwas in der Lage war? Joy konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie war die friedliebendste Person, die Amy kannte. Das passte einfach alles nicht zu ihr. Amy verstand beim besten Willen nicht, wie das alles hatte passieren können und in welche Geschichte Joy da hineingeraten war. Joy hatte doch niemandem jemals irgendetwas getan! Wieso also wollte jemand ihr etwas antun? Amys Gedanken drehten sich im Kreis und fanden einfach kein Ende. Das einzige, was sie wusste, war, dass man Joy mit all dem, was passiert war, offensichtlich so in die Verzweiflung getrieben hatte, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als zu diesen schrecklichen und unwirklichen Mitteln zu greifen. Eine Waffe zu benutzen? Amy konnte es immer noch nicht fassen!

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt