Kapitel 27

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„Dad!"

Erschrocken schlug Joy die Augen auf. Ganz deutlich hatte sie die Stimme ihres Dads gehört. Er hatte nach ihr gerufen.

„Dad, ich komme!"

Ihr Dad brauchte eindeutig ihre Hilfe. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers.

Benommen griff sie sich an ihren schmerzenden und von Schwindel erfüllten Kopf. Doch das würde sie nicht aufhalten. Taumelnd setzte sie sich auf, wo sie kurz innehielt, um Orientierung in der sich drehenden Umgebung zu finden. Vorsichtig sah sie sich um. Der Vorhang in den Flur war geschlossen. Ebenso die Tür. Sachte schälte sie erst das linke, dann das rechte Bein aus der Decke und setzte sie auf den Boden neben das Bett ab. Wackelig stand sie auf, musste sich aber sofort auf dem Bett abstützen. Der Schwindel war überwältigend und ihr war immer noch übel. Barfuß schlich sie zur Tür und lauschte. Jemand redete in einiger Entfernung, doch sie verstand nicht, worüber geredet wurde. Sie dachte nicht weiter nach und nahm ihre Hand zum Türgriff. Doch als sie die Türklinke gerade nach unten drücken wollte, fiel ihr plötzlich der Polizeibeamte wieder ein, der vor ihrer Tür stand. Verdammt, das war keine Option. Hastig zog sie die Hand wieder zurück.

„Der lässt dich nicht gehen, Joy. Denk nach!", ermahnte sie sich selbst.

Wirre Gedanken schwebten durch ihren Kopf und sie konnte kaum klar denken. Das einzige, was sie ganz klar hörte, war die Stimme ihres Dads, die sie rief. „Joy!", hörte sie sie immer und immer wieder in ihrem Kopf nachhallen. Joys Herz raste. Sie musste etwas tun. Verdammt, sie musste ihm irgendwie helfen!

Vorsichtig lehnte sie sich gegen die Tür in ihrem Rücken und sah ins Zimmer hinein. Es dauerte nicht lange, da hatte sie all ihre Optionen abgewogen. Denn es waren nicht viele. Ganz und gar nicht viele. Der einzige Weg nach draußen schien das Fenster zu sein.

Sie atmete einmal tief, um den Schwindel zu verdrängen, dann schlich sie tapsig quer durchs Zimmer, an ihrem Bett vorbei, zur Fensterfront. Mit pochendem Herzen sah sie hinaus.

„Du bist im ersten Stock. Das wird gehen", dachte sie bei sich.

Vorsichtig öffnete sie das Fenster und ließ ihren Blick nach unten wandern. Unter ihr war eine Wiese, der Garten des Krankenhauses. Sofort begann ein Plan in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Wenn sie sich an das Fenster hängen würde, wäre der Sturz aus dem ersten Stock nicht mehr sonderlich tief und das Gras würde ihn noch abfedern. Nichts würde passieren. Siegessicher grinste sie in sich hinein.

„Ich komme, Dad!", flüsterte sie in den seichten Wind.

Langsam hob sie ihr linkes Bein, wobei sie fast nach hinten fiel und sich erschrocken am Fensterrahmen festklammerte.

„Verdammt, reiß dich zusammen, Joy. Du schaffst das!"

Ein einfaches Fenster würde sie nicht aufhalten. Sie musste hier raus! Sie musste zu ihrem Dad. So viele Alarmglocken sie auch in ihrem Kopf schrillen hörte, der Ruf ihres Dads war lauter und er war das einzige, das für sie im Moment von Bedeutung war. Also dachte sie nicht weiter nach, nahm all ihre Kraft zusammen und hievte das Bein über den Fensterrahmen. Vorsichtig zog sie das andere Bein hinterher und saß schließlich mit pochendem Herzen in der Mitte des Fensters. Ihre Beine hingen nach draußen und mit den Händen krallte sie sich rechts und links am Fensterrahmen fest. Einige Sekunden blieb sie so sitzen, um wieder zu Kräften zu kommen und ihren Schwindel unter Kontrolle zu bekommen. Sie atmete einmal tief durch.

„Ok, du schaffst das."

Mit einem Ruck ließ sie ihren Hintern über den Fensterrahmen gleiten, während sie mit den Händen von den seitlichen zum unteren Fensterrahmen umgriff. Wenige adrenalingeladene Sekunden später hing sie mit dem ganzen Körper an der Wand entlang vom Fenster. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Schnittwunde am linken Arm und sie zischte Luft durch ihre zusammengebissenen Zähne. Danach atmete sie einmal tief durch, um sich auf den folgenden Fall vorzubereiten. Einen Moment stellte sie ihren ganzen Plan in Frage. War sie eigentlich vollkommen übergeschnappt? Was tat sie denn hier? Wollte sie sich ernsthaft fallen lassen? Doch dann hörte sie ein weiteres Mal den Ruf ihres Vaters in ihrem Kopf. Er klang verzweifelt, verletzt. Entschieden schob Joy all ihre Bedenken beiseite. Sie durfte jetzt nicht zögern. Das würde ihr Dad auch nicht tun, wenn sie seine Hilfe bräuchte. Nun brauchte er ihre Hilfe. Und sie würde sie ihm geben, komme, was wolle. Ihr Herz schlug höher, sie atmete ein letztes Mal tief durch – dann ließ sie los.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt