Kapitel 73

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Nachdem nach einer gefühlten Ewigkeit Joys Puls endlich zur Ruhe gekommen war, hatte sie wieder ihre Augen geschlossen. Sie wollte einfach nur noch schlafen und all dem hier entkommen. Sie hatte die Nase so voll davon, herumgeschubst und –getragen, gedemütigt und verletzt zu werden. Ihr Körper stand unter extremer Anspannung, sie befand sich in der ständigen Angst, wieder von einem der Männer hier auf dem Schiff bedrängt – und viel Schlimmeres – zu werden. Immer wieder liefen stumme Tränen über ihre Wangen.

„Gib den Mut nicht auf!", dachte sie noch einmal an die Worte ihres Dads. Das war wohl einfacher gesagt, als getan – oder ihr Dad hatte genau gewusst, wovon er redete.

Joy stöhnte. Ihre Gedanken kehrten unentwegt zu den Berührungen des Mannes zurück, zu der Panik, kurz davor gewesen zu sein, vergewaltigt zu werden. Wie sollte sie diese Momente je wieder vergessen? Verzweifelt versuchte sie, sich abzulenken und an irgendetwas anderes zu denken. Doch es gab beim besten Willen nichts, was viel besser gewesen wäre. Sie verstand einfach nichts von dem, was hier passierte! Was hatte ihr Dad mit Black Soul zu schaffen? Was hatte es mit diesem Schatz auf sich? Wer war Black Soul überhaupt? Es konnte doch beim besten Willen nicht der Pirat aus den Geschichtsbüchern sein, der Pirat, der zu dem Spezialgebiet ihres Dads gehörte. Wie passte denn das alles zusammen?

Aber sie konnte einfach nicht anders, als diesen Männern ihr Spiel abzukaufen. Das war kein Spiel. Das war purer Ernst. Diese Männer waren Piraten. Wie auch immer es funktionierte. Es waren Piraten. Und sie war mitten drin.

Verzweifelt kaute Joy auf dem Tuch in ihrem Mund herum. Sie war so schrecklich müde. Und sie wollte so unbedingt schlafen, um dem allem zu entkommen, aber gleichzeitig hatte sie zu große Angst davor, was passieren könnte, wenn sie schlief.

Inzwischen war es still um sie herum. Die Männer schienen den Kampf gegen den Alkohol verloren zu haben. Einige schliefen eindeutig laut schnarchend an Deck. Vermutlich konnte jetzt nichts mehr passieren, wenn sie schlief. Zumindest hoffte sie das. Langsam gab sie den Kampf auf und ließ es zu. Schon einen Moment später war sie weg.

~

Plötzlich hörte sie ein Scharren neben sich. Schockiert riss sie die Augen auf und blickte sich um. Ihr Herz raste schon wieder, ihr Puls schnellte in die Höhe. War wieder einer der Männer hier, um ihr wehzutun, um sie zu belästigen? Doch dann entdeckte sie ihn. Es war der Junge. Er saß neben ihr und starrte sie an. Überrascht erwiderte Joy seinen Blick und versuchte, ihr Herz irgendwie wieder zur Ruhe zu bringen. Neben dem Jungen stand ein Teller auf dem Boden. Ein großes Stück Fleisch lag darauf, dazu ein Kanten Brot. Begierig starrte Joy es an. Hatte der Junge vor, es hier vor ihren Augen zu essen?

„Pssst", flüsterte er plötzlich und legte seinen rechten Zeigefinger vor den Mund.

Eindringlich sah er sie an. Langsam hob er seine Hände und sie näherten sich ihrem Gesicht. Unwillkürlich zog sie ihren Kopf zurück.

„Pssst", wiederholte er noch einmal, dann hatten seine Hände ihr Gesicht erreicht.

Vorsichtig berührten sie das Tuch auf ihrem Mund. Fragend blickte er sie an. Joys Herz raste noch immer von dem Schreck, der sie aufgeweckt hatte. Sie hatte noch nicht wirklich geschafft, es zu beruhigen. Doch sie verstand schnell, was der Junge von ihr wollte. Langsam nickte sie, als sie erkannt hatte, dass er wohl auf eine Antwort ihrerseits wartete. Respektvoll nickte er zurück, bevor er begann, vorsichtig das Tuch von ihrem Mund zu schälen und es über ihr Kinn zu ziehen. Noch einmal sah er sie fragend an. Mit flehenden Augen nickte Joy. Sie konnte es kaum erwarten, endlich dieses widerliche Tuch loszuwerden! Der Junge nickte wieder zurück, dann zog er ihr tatsächlich langsam das Tuch aus dem Mund.

„Danke", flüsterte Joy voller Erleichterung und holte erst einmal tief Luft. Sie konnte kaum fassen, wie frei sie sich schon allein dadurch fühlte. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, nachdem sie so viele Stunden durch den Knebel eingeengt gewesen war.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt