Kapitel 75

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Hansson war in Gedanken vertieft. Er war nach dem Gespräch mit Bryan trotz allem nach Hause gefahren, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Nach einigem hin und her Wälzen hatte er sogar tatsächlich schlafen können. Die Anstrengung der letzten Tage hatten für einen einigermaßen guten, wenn auch kurzen Schaf gesorgt. Jetzt saß er wieder in seinem Büro und ging Bryans Notizen durch.

Hansson war beeindruckt! Bryan hatte wirklich an alles gedacht. Sogar die Morde hatte er in seine Theorie mit einbezogen und ihre möglichen Hintergründe erklärt. Das erste Mordopfer hatte Black Soul, der sich in dieser Welt nicht auskannte, Bryans Theorie nach helfen sollen, Lockwood zu finden. Und da Black Soul keine Autos kannte, hatte er später einen Fahrer dafür gebraucht – das zweite Mordopfer. Es machte Sinn, zweifellos.

Alle Gedanken waren fein säuberlich aufgelistet. Hansson war wirklich fasziniert von der Genauigkeit, mit der Bryan an die Aufgabe herangegangen war. Er hatte versucht, jeder Kleinigkeit einen Sinn zu geben. Und dabei war er außerordentlich erfolgreich gewesen, das konnte Hansson beim besten Willen nicht leugnen. Doch ein Gedanke bohrte sich immer tiefer in sein Gehirn und ließ ihn einfach nicht mehr los: Warum hatte Lockwood Black Soul den Schatz überhaupt gestohlen? Wer von beiden Männern war tatsächlich der größere Verbrecher? War Lockwood so habgierig gewesen, dass er Black Soul den Schatz geklaut hatte? War das möglich? Eigentlich konnte Hansson sich das nicht vorstellen. Lockwood war von allen Zeugen, allen Bekannten und Freunden als sehr höflicher, freundlicher und zuvorkommender Mensch beschrieben worden. Wie sollte er denn seiner ganzen Umgebung einen so gütigen und liebenswerten Mann vorspielen, wenn er im Grunde seines Herzens ein kalter Verbrecher war? Außerdem lebte er keinen teuren Lebensstil. Er wohnte nicht in einer Villa, hatte keine teuren Autos und machte keine glamourösen Urlaube. Auch auf Hansson selbst hatte Lockwood bei der ersten Begegnung einen vernünftigen und ehrlichen Eindruck gemacht. Niemals hätte Hansson an dem Professor gezweifelt. Doch wer konnte so etwas schon mit Sicherheit wissen? Die fiesesten Verbrecher waren oft diejenigen, denen man es am wenigsten zutraute. Diejenigen, die nach außen eine so perfekte Fassade aufsetzen konnten, dass man ihnen niemals auf die Schliche kam. Genau das machte die Besten aus. Aber gehörte Lockwood zu diesen Menschen? Eigentlich bezweifelte Hansson das, aber er würde diesem Gedanken trotz allem weiter nachgehen müssen. Zumindest durfte er nie die Möglichkeit außer Acht lassen, dass in Lockwood ein Verbrecher stecken könnte, der nicht besser war als Black Soul selbst. Es konnte gefährlich enden, wenn man einem Verdächtigen zu schnell Vertrauen schenkte.

Plötzlich klingelte Hanssons Telefon. Erschrocken blickte er von seinen Notizen auf und griff zum Hörer.

„Hansson", meldete er sich und wartete gespannt auf eine Antwort.

„Detective Hansson, eine Frau Rosemary Clint ist hier an der Rezeption. Sie sagt, sie kenne Professor Lockwood und müsse unbedingt mit Ihnen sprechen."

Hansson dachte einen Moment nach. Rosemary Clint. Diesen Namen hatte er noch nie zuvor gehört. Hatten sie nicht alle Freunde, Bekannte und Kollegen von Lockwood durchleuchtet und befragt? Dennoch, schon alleine die Tatsache, dass sie überhaupt hier war, machte ihn neugierig. Und irgendetwas sagte ihm, dass sie eine entscheidende Rolle in Lockwoods Leben spielen könnte – gerade weil sie nichts von ihr wussten.

„Ist gut. Lassen Sie sie hochkommen", sagte er und legte den Hörer auf.

Seine Finger kribbelten wieder. Das war eine interessante Wendung. Eine sehr interessante Wendung. Was war das wohl für eine Frau und wieso wollte sie mit ihm sprechen? Und wieso kam sie erst jetzt? Die Entführung war inzwischen drei Tage her. Was hatte sie so lange davon abgehalten, sich bei ihnen zu melden?

Das Gespräch versprach, interessant zu werden.

~

James hatte tatsächlich endlich mal wieder einigermaßen schlafen können. Die Hoffnung, dass Joy in Sicherheit war, hatte seine Seele beruhigt. Er hatte noch ein wenig mit Annie gesprochen, die aufgeregt danach gefragt hatte, was passiert war. Wie vermutet hatte sie sofort verstanden, dass er Joy weggeschickt hatte. Sie hätte niemals von ihr verlangt, sie mitzunehmen. Annie war so ein tolles Mädchen. James war immer wieder von neuem beeindruckt von ihr. Und er sah unglaublich viel von Joy in ihr. Sie waren sich so ähnlich in ihrer Art und Weise, wie sie versuchten, für andere Menschen da zu sein und sie aufzubauen in Situationen, in denen andere längst die Hoffnung verloren hätten. Und in der Bereitschaft, sich für andere zu opfern. Eine reine Seele, dachte er an Annies Worte zurück. Es war wohl wahr. Eine reine Seele, das hatten die Mädchen beide zweifellos.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt