Kapitel 96

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„Na, James."

Mac war nur kurze Zeit nachdem er die Zelle verlassen hatte schon wieder aufgetaucht. James stöhnte. Macs Anwesenheit war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Er hatte sich wenige Minuten zuvor vermutlich für immer von seiner Tochter verabschiedet. Noch immer hatte er diese Tatsache und Joys schmerzhaften Worte voller Liebe kaum überwunden. Er wollte jetzt einfach nur alleine sein und all das verarbeiten – falls man denn so etwas überhaupt verarbeiten konnte. Den Tod seiner geliebten Frau hatte er bis heute nicht überwunden.

„Das war ja wirklich süß, wie die Kleine versucht hat, dir einzureden, dass das alles nicht deine Schuld sei."

Hämisch lachte Mac und ließ sein Schwert an den Gitterstäben entlang gleiten.

„Das Dumme ist nur, dass sie im Unrecht ist. Du bist schuld. Du bist schuld an allem!"

Stöhnend wandte James seinen Blick ab. Er wollte einfach nichts hören. Nichts von dem, was Mac ihm zu sagen hatte.

„Aye, das willst du nicht hören, stimmts? Das verstehe ich, keine Frage. Aber das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du uns den Schatz gestohlen hast."

James war überrascht, dass Mac noch nicht direkt vor ihm in seiner Zelle stand und ihn mit seinem Schwert bedrohte. Dass er Abstand hielt und das Gitter zwischen ihnen beließ. Doch dann fiel ihm ein, dass Henry erst seit wenigen Minuten verschwunden war. Vielleicht hatte Mac die Befürchtung, er könnte noch einmal zurückkommen. In diesem Fall sollte er Mac nicht bei James in der Zelle ertappen. Schließlich wollte Henry James am Leben lassen, bis er mit dem Schatz wiederkam.

„Wir beide werden so viel Spaß haben heute Nacht", sprach Mac dann aus, was James befürchtet hatte.

James' Kehle schnürte sich zu, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, auch nur noch einen einzigen weiteren Schlag einzustecken. Ihm wurde schon alleine bei der Vorstellung schlecht. Die fast unerträglichen Schmerzen bei jeder kleinsten Bewegung waren sein ständiger Begleiter geworden, doch er wusste nicht, ob er noch mehr würde ertragen können. Aber – so verrückt das auch war – ohne Henry hatte er wohl keine Chance, dem zu entkommen. Mac würde sich nicht zurückhalten. Das war einfach nicht seine Art.

„Keine Angst, ich lasse dich am Leben", grinste Mac schief. „Das hat der Käpt'n sich gewünscht."

Kaum sichtbar schüttelte James den Kopf. Das bezweifelte er leider stark.

„Aber wir können ja trotzdem unseren Spaß haben, nicht wahr? Der Käpt'n hat nicht gesagt, in welchem Zustand er dich am Leben haben will."

Die Klinge, mit der Mac am Gitter entlanggefahren war, hielt inne und Mac starrte mit funkelnden Augen durchs Gitter.

„Bitte tun Sie das nicht!", hörte James plötzlich erschrocken Annies Stimme neben sich.

„Annie!", zischte er warnend zu ihr hinüber.

Doch es war zu spät. Sie war bereits aus ihrem sicheren Versteck herausgekrochen und im Zentrum von Macs Aufmerksamkeit.

„Das überlebt er nicht", protestierte sie weiter. „Sie sehen doch, dass es ihm nicht gut geht! Lassen Sie ihn einfach in Ruhe!"

Es hörte sich schrecklich verquer an, wie sie Mac, diesen Abschaum an Piraten, siezte. Aber das war Annie. Immer höflich. Sie hatte es nicht anders gelernt. Mac lachte herzhaft.

„Black Soul hat gesagt, Sie sollen ihn gut behandeln. Also machen Sie das auch", hielt Annie an ihrer kühnen Forderung fest.

„Annie", flehte James noch einmal und lehnte kopfschüttelnd den Kopf an die Wand. Sie durfte sich hier nicht einmischen. Sie musste weiterhin unsichtbar bleiben. Unsichtbar für die Piraten auf diesem Schiff. Unsichtbar für Mac. Sie sollte in ihrem dunklen Eck bleiben, aus den Augen, aus dem Sinn. Warum um alles in der Welt mischte sie sich ein? James hatte genug Sorgen, ohne sich auch noch um sie sorgen zu müssen. Oh dieses Kind. Ihr Herz war einfach zu groß für dieses Schiff.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt