Kapitel 63

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Reflexartig schloss Joy für eine Sekunde die Augen, als ihr der Sack vom Kopf gezogen wurde, dann starrte sie verunsichert geradeaus. Angestrengt versuchte sie, ihr nervöses Zittern zu unterdrücken. Kaum hatten ihre Augen scharfgestellt, stockte ihr der Atem. Direkt vor ihr, an einen Tisch gelehnt, stand ein Mann – ein Pirat! Sofort dachte sie an die Entführungsnacht, bei der sie ähnlich überrascht worden war und sich über die Piratenkostüme gewundert hatte. Doch die Männer hatten nicht annähernd dieselbe Präsenz und angsteinflößende Ausstrahlung besessen wie der Mann, der nur vor ihr stand.

„Black Soul!", dachte sie und schluckte.

Mit zittrigen Knien stand sie vor ihm. Erschrocken stellte sie fest, wie ähnlich dieser Mann den Bildern sah, die sie von dem echten Black Soul kannte. Doch das war schlichtweg nicht möglich. Sie verstand die Welt nicht mehr und biss angespannt die Zähne zusammen. Der Mann grinste sie mit einer Mischung aus Verzückung und abgrundtiefer Boshaftigkeit an und zog vielsagend die Augen zusammen. Er starrte ihr genau in die Augen und es traf sie wie ein Dolch mitten ins Herz. Sie war völlig verloren in diesen tiefen schwarzen Augen, die so viele Grausamkeiten zu erzählen schienen und denen sie unbedingt und auf der Stelle entkommen wollte. Doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Sie war wie gefangen von seinem Blick, der eine unheimliche Autorität und Dominanz ausstrahlte. Starr blickte sie den Mann an. Immer wieder blitzten die Bilder aus den Geschichtsbüchern in ihr auf und sie schüttelte sie verzweifelt wieder von sich. Es machte einfach keinen Sinn und es musste schlicht auf Zufall beruhen. Trotzdem versetzte es sie in Angst und Schrecken, denn von Black Soul hatte sie noch nie etwas Gutes gehört.

Sie schluckte. Was um alles in der Welt hatte sie nur getan? Wo war sie hier nur rein geraten? Was hatte ihr Dad mit diesen Männern zu tun? Und wieso sagte niemand ein Wort?

Ihr Herz raste und sprang ihr beinahe aus der Brust. Ängstlich sah sie den Piraten an und wartete darauf, was passieren würde. Sie wagte nicht, selbst etwas zu sagen.

„Aye, du hast seine Augen!", sagte er plötzlich.

Unsicher stöhnte sie auf.

„Und ihre Nase", fuhr er dann mit einem verschmitzten Lächeln fort.

Ihre? Meinte er die Nase ihrer Mum? Joys Herz setzte für einen Moment aus. Kannte Black Soul ihre Mum? Der Mann schien ihr den Schock in den Augen anzusehen und lachte laut auf. Wie sehr sie ihn schon jetzt hasste, obwohl sie ihm gerade erst begegnet war. Sie vermisste ihre Mum so sehr, ohne sie je kennengelernt zu haben. Und dieser Mann lachte! Verunsichert, aber voller Wut starrte sie ihn an. Ihre Knie zitterten noch immer. Diesen Mann umgab eine Aura, als wäre er der Teufel in Person. Joy hielt es kaum aus, in seiner Nähe zu sein. Doch mit den beiden Männern im Rücken hatte sie wohl keine andere Wahl. Sie atmete tiefer. Sie wollte einfach nur weg von hier.

„Na wo bleiben denn meine Manieren", unterbrach der Mann dann plötzlich sein Lachen. „Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Black Soul."

Seine Stimme war einfach gewaltig. Sie war so tief, dass Joy das Gefühl hatte, sie in ihrer Brust vibrieren zu spüren. Mit zitterndem Kinn starrte sie ihn an. Sie war tatsächlich bei Black Soul, dem Mann, der die Morddrohung ausgesprochen hatte und ihren Dad gefangen hielt.

„Meine Freunde nennen mich Henry", fügte er dann seiner Vorstellung hinzu. Er hielt kurz inne. „Da du die Tochter von James bist, darfst du mich Henry nennen."

Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Freunde nennen mich Henry? Joy war verwirrt. Waren Henry und ihr Dad Freunde? Was sollte das? Ihre Augen erstarrten und sie schluckte. Sie verstand die Welt nicht mehr. Ihr Dad hatte nie von einem Henry erzählt! Das ergab einfach alles keinen Sinn und Joy war heillos überfordert. Als wäre es nicht schon genug gewesen, entführt zu werden und einem Mörder gegenüber zu stehen ohne eine Ahnung, was er von ihr wollte. Musste die Situation auch noch zusätzlich so schrecklich verwirrend sein? Joy hatte ihre Gedanken und Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen, Gedankenfetzen flogen um die Wette, ohne dass einer zum anderen passte. Henry. Ihr Dad. Ja, Joy wusste nicht viel aus der Vergangenheit ihres Dads. Natürlich konnte es sein, dass ihr Dad ihr einen alten Freund verschwiegen hatte. Aber jemanden wie Henry? Black Soul? Sie wusste einfach nicht mehr, was sie denken sollte. Das alles war einfach zu viel.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt