Kapitel 16

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Das Taxi setzte Joy vor der Haustür ab. Ihr Geld reichte tatsächlich gerade so, um den Fahrer zu bezahlen. Sie konnte immer noch nicht fassen, wie weit sie von Amys Wohnung aus gerannt war. Blind vor über sie hereinstürzenden Emotionen musste sie einfach gerannt sein und alle Anzeichen von Erschöpfung ignoriert haben. Sie hatte Glück, dass ihr Geld trotzdem gereicht hatte.

Die ganze Fahrt über hatte Joy darüber nachgedacht, wo die Kiste wohl sein könnte. Sie war froh darum gewesen, wenigstens für ein paar Momente an etwas anderes denken zu können als an die Stunden davor. Letztendlich war sie sich ziemlich sicher, dass ihr Dad die Kiste einfach im Kleiderschrank versteckt hatte. Viel mehr Verstecke gab es in seinem Zimmer nicht und ihr Dad wusste, dass er Joy vertrauen konnte. Er wusste, dass er die Kiste nicht gut verstecken musste und Joy sie trotzdem niemals ansehen würde. Schließlich hatte er es ihr verboten und das respektierte sie – beziehungsweise das hatte sie respektiert.

Jetzt war alles anders. Ihr Dad war verschwunden. Er war entführt worden! Vermutlich war er in Gefahr! Und in diesem Fall wurden alle Regeln und Gesetze egal. Es zählte nur noch, ihren Dad wiederzufinden und dafür waren Joy alle Mittel Recht. Sie würde diese Kiste finden und sie würde sie öffnen!

Joy war unglaublich hibbelig. Die ganze Fahrt über hatte sie herumgezappelt. Sie hatte überhaupt nicht stillsitzen können. Der Taxifahrer hatte immer wieder verwundert zu ihr hinüber gesehen. Einmal hatte er sie sogar gefragt, ob alles in Ordnung sei. Sie hatte einfach genickt, aber sie hatte das Zappeln nicht verhindern können, so sehr sie es auch versucht hatte. Die Überlegungen zur Kiste hatten sie zwar kurzzeitig abgelenkt, aber die bohrende Angst um ihren Vater war trotzdem ihr ständiger Begleiter. Sie musste einfach herausfinden, was geschehen war!

Als sie nun endlich in der Wohnung ankam, war ihr ganz mulmig zumute. Hatte ihr Dad sie nicht am Morgen angefleht, von hier zu verschwinden und nicht wieder zurück zu kommen? In dem ganzen Durcheinander ihrer Gedanken hatte sie das völlig verdrängt. Jetzt, wo sie wieder hier war, fiel ihr die Situation vom vorigen Morgen plötzlich wieder ein und sie lief vor ihrem inneren Auge ab wie ein Film. Der gestrige Tag hatte sich angefühlt wie eine ganze Woche, so viel war passiert. Unvorstellbar, dass das wirklich nur ein einziger Tag gewesen sein sollte.

Joys Herz schlug höher, als sie die Wohnung tatsächlich betrat. Irgendwie wagte sie nicht so recht, das Licht anzuschalten. Seltsamerweise fühlte sie sich wie ein Eindringling in ihrer eigenen Wohnung. Vermutlich, weil sie vorhatte, etwas Verbotenes zu tun. Aber sie musste diese Kiste finden, das war ihre einzige Hoffnung.

Das Mondlicht schien von draußen in das große Wohnzimmer und ließ vage Umrisse erkennen. Die Wände schienen Joy bedrohlich zu folgen, bei jedem Schritt. Als würden sie sich hinter ihr verschließen um ein Zurück unmöglich zu machen. Joys Herz raste und sie hatte Schwierigkeiten, ihre Atmung zu kontrollieren. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Schlafzimmer ihres Dads erreicht hatte, schloss sie hektisch die Tür hinter sich und lehnte sich atemlos dagegen, als wollte sie die Wände davon abhalten, ihr zu folgen.

Langsam und mit zittrigen Händen tastete Joy nach dem Lichtschalter. Als das Licht dann anging, zuckte Joy unwillkürlich zusammen. Sie stand im Schlafzimmer ihres Dads. Mitten in der Nacht. Aber ihr Dad war nicht hier. Er war nicht da, obwohl er da sein sollte. Er sollte in diesem Bett liegen. Er sollte hier liegen und gemütlich schlafen. Und Joy in ihrem Zimmer nebenan. Sie sollten jetzt beide gemütlich schlafen und sich dann zum Frühstück in der Küche treffen. Ihr Dad sollte jetzt da sein. Er sollte für seine Tochter da sein. Sie brauchte ihn doch jetzt so dringend!

Verdammt, wo war er nur? Ging es ihm gut? War er verletzt? War er in Gefahr? War er überhaupt noch am Leben? Joy musste sich schwer zusammenreißen, um ihre Emotionen in Schach zu halten. Eigentlich hätte sie hier und jetzt in Tränen ausbrechen können. Sie fühlte sich so unglaublich einsam. Einsam, verlassen und so verletzlich. Sie hatte so eine Angst um ihren Dad, dass sie kaum noch klar denken konnte. Aber sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie hatte eine Mission. Und diese war in diesem Moment um ein Vielfaches wichtiger als ihre Gefühle. Die mussten wohl erstmal warten.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt