Kapitel 22

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„Aber ich gehöre sozusagen zur Familie! Wirklich! Ich will doch nur, dass sie ein bekanntes Gesicht sieht, wenn sie aufwacht!"

Amy hing zappelnd über der Theke. Die Krankenschwester dahinter sah sie überfordert an.

„Ich darf niemanden zu ihr durchlassen. Es tut mir leid, aber so ist die Anweisung."

Der Polizeibeamte an der Tür blickte bereits misstrauisch zu ihr hinüber. Amy war am Verzweifeln. Nach dem Anruf des Detectives hatte sie keine Sekunde gebraucht, da war sie schon in ihre Schuhe geschlüpft und ins Auto gesprungen, bis ihre Eltern nach einer gefühlten Ewigkeit endlich nachgekommen und losgefahren waren. Jetzt stand sie hier direkt vorm Zimmer und kam nicht weiter. Ihre Eltern versuchten sie zu beruhigen und ihr zu erklären, dass die Frau nur ihren Anweisungen folgte, doch damit wollte Amy sich nicht zufrieden geben.

„Aber – ich bin doch die einzige Familie, die sie jetzt noch hat!", wandte sie sich ein weiteres Mal verzweifelt und mit Augen erfüllt von Traurigkeit an die Krankenschwester. Diese blickte tief betroffen zurück, warf einen kurzen fordernden Blick auf die Eltern und dann wieder mitfühlend auf Amy.

„Ich würde dir ja wirklich gerne helfen, glaub mir, aber –"

„Das ist in Ordnung, sie kann rein", kam plötzlich eine Stimme von hinten.

Ruckartig drehte Amy sich um und wäre beinahe mit dem Detective zusammengestoßen, der gerade neben sie trat.

„Tut mir Leid, Familie Mayne. Wir müssen einfach vorsichtig sein. Aber" – er wandte sich wieder zur Krankenschwester – „das Mädchen darf rein."

Die Krankenschwester nickte schüchtern.

„Geh du ruhig schonmal vor, Amy", zwinkerte der Detective der aufgelösten Amy zu. „Ich warte hier noch auf den Arzt und komme dann nach. Aber Amy", er sah sie ernst an und Amy blieb noch einmal stehen, „Joy kann sich nicht an das erinnern, was passiert ist."

Detective Hansson gab dem Polizisten ein Zeichen, Amy durchzulassen. Noch schockiert über die Worte des Detectives rannte sie zur Tür. Dann öffnete sie sie ganz vorsichtig und betrat unsicher das Zimmer, wo ihre Freundin schlafend im Bett lag. Der Anblick tat Amy im Herzen weh. Ein dickes Pflaster zog sich an Joys Hals entlang. Amy schluckte bei der Vorstellung, was Joy wohl hatte durchmachen müssen. Der Detective hatte nicht viel darüber erzählt. Nur, dass es einen Entführungsversuch gegeben hatte. Wenn die Verstärkung nicht im letzten Moment gekommen wäre, wäre es wohl für beide, den Detective und Joy, übel ausgegangen. Joy hatte Mut bewiesen, hatte der Detective weiter erzählt. Ohne ihren tapferen Einsatz wäre der Detective jetzt nicht mehr am Leben. Die Situation musste dramatisch gewesen sein. Amy konnte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es gewesen sein musste. Und Joy war mittendrin gewesen. Und das alles, nachdem sie erst wenige Stunden zuvor ihren Dad verloren hatte. Amy holte tief Luft und versuchte, die Bilder zu verdrängen, die durch ihren Kopf schwebten. Die ganze Autofahrt zum Krankenhaus lang hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen. Jetzt, als sie ihre Freundin so daliegen sah mit ihren Verbänden und Pflastern, versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. Sie war einfach zu empathisch. Leise nahm sie sich den Stuhl, der am Fenster stand und zog ihn vorsichtig zum Bett. Mit weichen Knien setzte sie sich zu ihrer Freundin.

„Oh Joy", flüsterte sie leise und strich ihrer Freundin mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie mit der anderen Hand vorsichtig Joys linke Hand umgriff.

„Was hast du nur durchgemacht? Es tut mir so Leid –"

Sie stockte. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Dafür gab es keine Worte. Sachte legte sie ihren Kopf neben Joys Schulter und spürte deren Atem. Das tat gut. Joy ging es gut, so lange sie schlief. So sollte es bleiben. Sie sollte einfach einen Moment Frieden haben. Einen Moment ohne das Wissen um ihren verschwundenen Vater und eine versuchte Entführung. Einen Moment ohne die Angst, was passiert war oder was passieren würde. Ein kleines Husten ließ Amy jedoch hochschrecken.

Im Strudel der Zeit - Tödliche GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt