Es ist früher Abend, als wir von der Autobahn abfahren und die Straßen immer kleiner und enger werden. Die Namen der Städte sagen mir nichts, aber an der Vegetation erkenne ich, dass wir im Südlichen Italien sind. Wenn ich mich nicht irre, habe ich auf der Fahrt auf einem der Schilder die Worte Kampanien gelesen. Liegt Neapel nicht in Kampanien? Ich hätte wirklich besser aufpassen sollen, wenn mein Vater mir auf den vielen Fahrten in unseren Italien Urlauben die Umgebung erklärt hatte. Was meine Eltern jetzt wohl gerade machten? Ob sie noch nach mir suchten?
"Wir sind gleich da", teilt mir Pasquale in gebrochenem Deutsch mit und ich kann seine Erleichterung, mich loszuwerden förmlich spüren. Und dann fährt der Lkw auf einen engen Schotterweg, den ich fast übersehen hätte, einen Hügel hinauf. Rechts und links ziehen sich alte Pinien empor und werfen Schatten auf den Weg vor uns. Nach einigen Minuten fahrt erscheint ein großes Eisentor, an dem schon ein Mann auf uns wartet. Das Grundstück muss riesig sein, denn auch hinter den eisernenn Stangen kann ich nur Natur erkennen. Pasquale hält vor dem Tor an und nickt dem Mann am Eingang kurz zu. Dann wendet er sich mir zu. "Na dann, man sieht sich", verabschiedet er sich halbherzig von mir und bedeutet mir, auszusteigen. Den Weg zu diesem fremden Mann, der schon seine Augen auf mir ruhen lässt, muss ich wohl alleine beschreiten.
Auch ich verabschiede mich und steige dann aus der Beifahrertür. Eine Wand von schwüler Luft stößt mir entgegen und es ist bestimmt zehn Grad wärmer, als im inneren des Fahrzeugs. Ohne mich noch ein letztes Mal umzusehen steuere ich auf das Tor zu. Ich hole tief Luft und drücke meine Schultern nachhinten, um gerader zu laufen. Der erste Eindruck zählt. Vor mir sehe ich den unscheinbar wirkenden Mann, er trägt ein weiß-gräuliches Unterhemd und braune Hosen. Die Schuhe sind abgetragen und er könnte genauso gut der Gärtner des Hauses sein. Vielleicht ist er das ja auch, wer weiß, aber weil ich es eben nicht weiß, muss ich einen guten Eindruck machen. In meinem Nacken spüre ich die schwache Abendsonne, als ich vor ihm stehen bleibe. Er ist auf der anderen Seite des geschlossenen Tores und beobachtet mich ruhig.
"Buona sera" begrüße ich ihn und er nickt mir freundlich zu. "Auch dir einen Guten Abend, Loreena", erwidert er dann auf Deutsch, "Mein Name ist Marco". Und weil ich nicht weiß, was ich jetzt sagen soll, meinen Namen kennt er ja bereits, bleibe ich einfach still stehen und zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln. Er holt einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schließt das große Tor auf. Dann drückt er es ein wenig auf, dass ich gerade so hindurchschlüpfen kann.
"Komm mit, du bist sicher erschöpft von der langen Reise" sagt Marco, nachdem er wieder zugeschlossen hat und dreht dem Tor und mir seinen Rücken zu. Gehorsam folge ich ihm und der Weg führt uns immer tiefer in die Natur. Die Bäume auf diesem Grundstück müssen bestimmt viele Generationen überstanden haben, den sie ragen hoch in den Himmel und ihr gesundes Grün mischt sich mit der wolkenlosen Bläue. Als ich das letzte Mal mit einem Mann allein in einem Wald war, habe ich ihn erschossen. Ermordet. Ein Vogel flattert laut mit seinen Flügeln, als er von unseren Schritten aufgescheucht in die Luft flieht. Die Umgebung lichtet sich und nun ist eine weite Grünfläche vor uns zu sehen. Das Gesamte Grundstück scheint auf einem großen Hügel zu liegen, denn alles vor mir steigt leicht an. Deswegen sieht man jetzt auch die riesige, im toskanischen stiel und mit rötlich orangen steinen erbaute Villa.
"Hier wirst du für einige Zeit unterkommen.", spricht Marco und reißt mich aus meinem Staunen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben war.

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Legato
Adventure„In meinem Leben gibt es niemanden mehr, für den es sich zu sterben lohnt" Als sie Zeugin eines Unfalls wird, gerät die 18 jährige Loreena unfreiwillig in die ihr völlig fremde Welt der Mafia. Plötzlich sieht sie sich Entscheidungen gegenüber, die w...