"Oh nein Loreena, ich will nicht, dass du schon gehst! Dann bin ich wieder das einzige Mädchen zwischen den ganzen Langweilern!", beschwert sich Rika und hängt sich mit der unverletzten Hand an mich. "Wir müssen unbedingt Nummern tauschen!!"
"Ja müssen wir... aber ich habe gar kein Handy mehr!", erwidere ich. Rückblickend betrachtet hatte ich wirklich lange kein Smartphone mehr in der Hand gehabt. Wir komisch, immerhin hatte ich früher stunden an meinem Handy verbracht, wie fast jeder andere Teenager meines Alters auch. "Dann geb ich dir einfach meine Nummer und du rufst an, sobald du dir ein neues gekauft hast!" beschließt Rika energisch und verschwindet in der Küche, wahrscheinlich um Stift und Papier zu suchen.
"Was passiert jetzt eigentlich mit euch?", frage ich Grell, eine Frage, deren Antwort mich wirklich interessiert. Was hatten die Mitglieder unserer zufällig zusammengestellten Reisegruppe eigentlich davor gemacht? Da wir wohl alle aus dem Haus im Wald geflohen waren, vermute ich mal, dass keiner von ihnen noch eine weiße Weste hat. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Rika gleichgültig jungen Mädchen ihrem Schicksal überlässt, andererseits hätte ich das auch nie von mir erwartet. Wir haben wohl alle Seiten in uns, die kein Außenstehender vermuten würde. „Wir werden erstmal nach Neapel fahren und dort einige Zeit bleiben, bis sich alles wieder beruhigt hat." antwortet Grell mir.
"Ach nee, nicht schon wieder Hafen Arbeit!" stöhnt Rika, die gerade aus der Küche kommt. Erfolgreich mit Blatt und Stift. Sie lässt sich neben mir nieder und beginnt eine Nummer zu kritzeln, danach schreibt sie noch ihren Namen daneben. Das i-Pünktchen ist eine Sonne. Passend zu ihrem Charakter. Ich stecke den Zettel ein und nehme mir vor, sie tatsächlich mal anzurufen. "Ach, du musst doch eh nur Kochen, Rika, wir Männer haben die viel anstrengendere Arbeit!", lässt uns drei eine weitere Stimme zusammenfahren. Es ist der Mann, der auch mit uns hergefahren ist. Seinen Namen habe ich bereits vergessen, oder wusste ich ihn jemals? Moment mal, Kochen? Heißt das etwa, dass Rika hinter den köstlichen Speisen, die mir in meiner Gefangenschaft serviert wurden steckte? Ein schöner Gedanken, das würde nämlich bedeuten, dass sie nie ihre Hände schmutzig machen musste und somit die Reinheit ihrer Seele nicht nur vorgespielt ist.
"Loreena, du hast echt Glück gehabt, Hafen Arbeit ist eigentlich nur für die Neuen und man muss Tag ein Tag aus Kisten rumschleppen. Das ist mega anstrengend und die Leute da sind alle blöd!", sagt Rika, und dann an Grell gerichtet „Wir könnten doch auch auf Sizilien untertauchen und in einem der Büros arbeiten!". "Naja, um ehrlich zu sein glaube ich, dass das eine Art Bestrafung ist, also die Hafen Arbeit, weil wir so versagt haben und die Polizei den Lieblings Stützpunkt vom alten Boss stürmen konnte.", erwidert der Mann, dessen Namen ich vergessen habe. "Stimmt und wir haben auch echt viel Qualitätswahre verloren...", fügt Grell noch hinzu. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, wenn ich an die "Qualitätswahre" denke.
"Wie auch immer, jetzt sollten wir erstmal Frühstücken und unsere letzte gemeinsame Zeit mit Loreena nutzten!", wechselt Rika das Thema und versucht die Gedrückte Stimmung des Raumes wieder zu heben. Also beginnen wir den Tisch zu decken und richten unter Rikas Anleitung ein außerordentlich Üppiges Essen her. Das Gespräch bleibt oberflächlich und keiner wagt es wieder tiefgründigere Themen anzuschneiden. Nach und nach stoßen auch die restlichen Bewohner des Hauses hinzu und wir alle genießen unsere Mahlzeit an dem großen Holztisch. Die Szene erinnert mich an da Vincis "das letzte Abendmahl", denn sie alle wissen noch nicht, dass sich ein Verräter unter ihnen befindet, nämlich ich. Auch ich werde einen der ihren ausliefern.
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Legato
Aventura„In meinem Leben gibt es niemanden mehr, für den es sich zu sterben lohnt" Als sie Zeugin eines Unfalls wird, gerät die 18 jährige Loreena unfreiwillig in die ihr völlig fremde Welt der Mafia. Plötzlich sieht sie sich Entscheidungen gegenüber, die w...