Rot. Alles ist Rot. Am Boden vor mir sackt der junge Körper zusammen. Teile aus Knochen und Hirn kleben an der dunklen Steinwand gegenüber. Erstarrt schaue ich auf die Szene vor meinen Füßen. Surreal. Es sieht aus wie in einem Fernsehkrimi. Eine schwere Hand legt sich auf meine Schulter und ich werde mit einem Mal in die Realität gekickt.
"Ist es das erste Mal, dass du sowas siehst? Sorry, ich hätte dich vorwarnen sollen, aber egal jetzt. Gehen wir!", sagt Kian und zieht sich mit sich. In meiner rechten Hand umklammere ich den Griff des Messers. Das kalte Metall beruhigt mich. Kian hat gerade ein kleines unschuldiges Mädchen erschossen. Vor meinen Augen. Und ich habe nichts getan. Kurz bevor er mich aus dem Raum zieht, sehe ich die Leichen der anderen drei Mädchen. Wie leblose Puppen. Nur noch Hüllen... Ausschussware. Mein Blick reißt ab, als Kian mich um die Ecke zieht. Ich schließe meine Augen für eine Sekunde und als ich sie wieder öffne, stehe ich im Korridor. Verbanne jeglichen Gedanken aus meinem Kopf. Überleben! Das steht an erster Stelle. "Hast du dich beruhigt?", frägt der Mörder mir gegenüber, während er seine Pistole überprüft. Es ist dasselbe Modell, wie die aus dem Koffer damals. Damals. Damals war ich hilfsbereit und selbstlos. Wollte eine Heldin sein. Doch jetzt bin ich anders. Habe erkannt, dass ich um zu überleben nicht auf andere achten kann. Ich stehe an erster Stelle!
Kian vor mir rennt los und ich folge ihm. Es fühlt sich gut an zu rennen. Nach all der Zeit, die ich nur rumsaß oder langsam durch die unendlichen Gänge trotte. Jetzt kann ich endlich rennen. Weg von diesem Ort der Gefangenschaft und Unterdrückung. egal wohin, ab jetzt stehe ich an erster Stelle und ich werde meine Ziele verwirklichen. Komme was Wolle.
"K hier, ist Fluchtweg 3 frei?", spricht Kian in sein Funkgerät. Wir haben nicht aufgehört zu rennen, doch inzwischen kenne ich mich in diesen Gängen nicht mehr aus. Das ist der Teil des Hauses, den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe. "...rausch...Weg 7... frei... Peng", im Hintergrund des Funkspruchs sind Schüsse zu hören. "Fuck, ok dann mal los!", meint Kian und biegt abrupt in einen engen Seiten gang ab. Eine kleine Treppe erscheint jetzt vor uns. Außer Atem beginnen wir sie hochzulaufen. Ich habe Angst. Oben sind Schüsse. Aber Oben wartet auch die Freiheit. Vor einer schwarzen Tür kommen wir zum Stehen. Hinter ihr sind schritte und Stimmen zu vernehmen. Freund oder Feind? Ich weiß es nicht. Angespannt halte ich den Atem an und presse mich eng an die Wand. Kian öffnet die Tür einen Spalt breit. Die Pistole entsichert und bereit in der Hand. Er wirft einen Blick durch den Spalt. Ein Schuss ertönt. Ich zucke zusammen. Feind.
"Ich bin's Kian!", schreit der Muskelprotz vor mir und reist die Tür ganz auf. Ist er verrückt? "Achso, sorry, Fra*!", ertönt eine andere Stimme. Hinter der Tür erblicke ich einige der Typen, die mir manchmal das Essen gebracht haben. Die andere sind mir unbekannt. Aber sie gehören zu uns. Freunde. Mit einem "hier" drückt mir der eine Mann eine Pistole in die Hand. "Pass auf, ist entsichert und noch eine Kugel im Lauf". Jetzt halte ich ein Messer in der einen und eine Pistole in der anderen Hand. Wie ist es bloß so weit gekommen? Vor einem halben Jahr war ich noch eine gelangweilte Schülerin in ihrem Abschlussjahr. Jetzt bin ich Teil einer italienischen Mafia, inmitten von Schüssen, Blut und Tod. Wir rennen los.
*Fra = italienisches Bro

DU LIEST GERADE
Legato
Adventure„In meinem Leben gibt es niemanden mehr, für den es sich zu sterben lohnt" Als sie Zeugin eines Unfalls wird, gerät die 18 jährige Loreena unfreiwillig in die ihr völlig fremde Welt der Mafia. Plötzlich sieht sie sich Entscheidungen gegenüber, die w...