Teil64

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Den Rest des Tages verbringe ich tatsächlich damit, meine neue Wohnung zu erforschen. Die Zeit vergeht wie im nu und nach einem kurzem Mittagessen bricht bereits der Abend an. Ein leises Klopfen an der Tür sagt mir, dass es Zeit ist aufzubrechen. Ich bin etwas schicker als gewöhnlich angezogen, aber ich konnte den neuen Klamotten, die wunderweise perfekt passen einfach nicht wieder stehen. Ein grau lila Samtoberteil fließt an mir herab und steckt in einem schwarzen, kurzen Rock. Nichts, dass ich mich jemals getraut hätte anzuziehen. In meinem alten Leben. Vor der Tür steht mal wieder ein mir unbekanntes Gesicht.

„Hey", sage ich verunsichert, während ich die Tür hinter mir schließe und auf den Gang trete. „Hey, komm, der Boss wartet schon.". Der Boss? Irgendwie war ich davon ausgegangen, mit Jaden alleine zu essen, aber dass Valentino dabei sein könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Wie dumm von mir. Will er mit mir sprechen? Wie viel wissen sie über den Vorfall im Wald damals?

Ich folge dem stämmigen Typen vor mir und er führt mich durch die viel zu große Villa. „Seit wann ist Valentino denn hier?", frage ich ihn, einfach um ein bisschen Smalltalk zu führen. Das Gespräch am Morgen mit Juliano hatte mir klar gemacht, wie sehr ich es vermisste über unbedeutendes zu plaudern.

Doch der Typ vor mir scheint diese Ansicht nicht mit mir zu teilen. Er macht ein komisches Geräusch, als hätte ich einen Witz gesagt und dann schweigt er einfach. Ich folge ihm, bis wir vor der großen Eingangstür stehen. „Nach draußen?", frage ich überrascht, doch ich bekomme wieder keine Reaktion. Er hält mir die Tür auf und wartet genervt, bis ich an ihm vorbeigeschritten bin. Die Sonne ist bereits hinter den Bäumen verschwunden, aber der Himmel erstrahlt noch in einem blau, dass mir fast den Atem nimmt. Die blaue Stunde. Wie kann etwas nur so unbeschreiblich leuchten? Der schwarze Schatten von zwei Vögeln, die über den bereits leicht zu sehenden Halbmond hinwegschweben lassen mich einen funken von Lebensfreude spüren. Erst jetzt merke ich, wie lange es her ist, dass ich so starke positive Emotionen gefühlt habe. Die Natur ist so wunderbar bezaubernd und dann kommen wir idiotischen Menschen und zerstören alles. Eine Welt ohne uns wäre wohl das Paradis. Ein Paradis, dass wir nie erreichen werden, weil wir der natürliche Feind der Natur sind.

„Schau lieber auf den Weg und komm endlich! Wie lang willst du ihn noch warten lassen?", reist mich mein Begleiter aus den Gedanken. Ich sauge noch einmal tief die frische Abendluft auf und versuche dieses Naturspektakel in meinen Erinnerungen zu festigen. Vielleicht können sie ja die schlechten der letzten Monate ersetzen.

Wir gehen ein Stück auf dem langen Weg, der zur Grundstücksgrenze führt, doch dann biegt der dunkle Mann vor mir einfach in die Wälder ab. Die zirpenden Geräusche lassen es etwas weniger unheimlich aussehen, aber nachdem ich ihm dann doch zögerlich folgte, betreten wir nun eine Kleine Lichtung auf der ein reich bedeckter Holztisch steht. Jaden hat sich noch nicht hingesetzt und er bemerkt uns nicht sofort. An einen der Bäume gelehnt schaut er auf sein Smartphone. Die dunklen Locken fallen ihm ins Gesicht und er hätte ein Model auf irgendeinem Cover sein können. Er hat ein weißes Hemd an, dass ihm sehr gut steht, er trägt sogar eine Krawatte, aber sie sitzt bereits locker. Ich bin froh, mich ebenfalls etwas schicker angezogen zu haben.

Ich trete auf einen Ast und das knacken lässt ihn aufblicken. Die dunklen Wimpern richten sich in meine Richtung.

„Wow", sagt Jaden nur und lässt seinen Blick an mir herunterfahren. Eigentlich wäre es mir unangenehm, so betrachtet zu werden, aber jetzt gerade macht es mir komischerweise nichts aus. 

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