Teil78

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Am Abend schreibe ich Jaden eine Textnachricht in der ich ihm von meinem Tag erzähle. Den Vorfall heute Mittag lasse ich aus, erwähne aber, dass ich gerne mal wieder einen Arzttermin haben wollen würde und ob das den möglich währe.

»Bist du Krank?«, schreibt er.

»Nein, einfach nur so. Du solltest auch einen machen, hin und wieder ist das sinnvoll, einfach aus Vorsicht!«

»Ok, dann mach ich dir einen Termin aus :) Schlaf gut Ena«

»Du auch, gute Nacht.«

Ich lege das Handy weg. Vielleicht war ich zu enthusiastisch, was wenn bei diesem Arzttermin herauskommt, dass ich psychisch labil bin? Wenn raus kommt, dass ich ein Geheimnis habe und damit nicht umgehen kann. Was wenn Jaden mich dann nicht mehr will? Aber ich will ihn doch gar nicht? Ich will nur überleben! Bestimmt bin ich immer noch wegen der Hochzeit verwirrt. Aber wollte ich nicht versuchen, Gefühle für Jaden zu entwickeln?

Gefühle. Was sind das eigentlich? Woher kann ich sicher wissen, dass ich Jaden abgrundtief hasse, wenn ich noch nie zuvor gehasst habe? Woher kann ich wissen ob ich ihn mag. Ihn liebe? Lieben könnte. Nein. Ich darf ihn nicht lieben! Jede seiner Berührungen kribbelt. Wenn ich in seine Augen sehe, erblicke ich unendliche Trauer und etwas Dunkleres, dass er nie mehr loswerden wird. Seine Seele wurde verletzt. Ich weiß nicht genau, was er alles durchgemacht hat. Ich habe bis jetzt immer nur an mich selbst gedacht. Mein Überleben, meine Schmerzen und meine Rache. Doch was Jaden schon alles durchgemacht hat war mir immer egal. Ist es noch. Aber wenn ich den Rest meines oder seines Lebens mit ihm verbringen soll, dann währe es schon wichtig, über ihn Bescheid zu wissen. Soll ich ihn fragen, wenn wir uns das nächste Mal sehen? Ich lasse mich auf das Bett fallen und starre an die Decke.

Ob Jaden schon einmal gemordet hat? Musste er? Oder hatten das stets seine Handlanger für ihn getan. Sich die Hände an Stelle eines anderen beschmutzt. Könnte ich damit leben, dass Jaden, genauso wie ich ein Mörder ist? Könnte ich ihn trotzdem lieben? Oder ihn zu minderst genug akzeptieren? Habe ich ein Recht darauf, Jaden für seine vielleicht verbrochenen Taten zu verurteilen, wo ich doch selbst sicher eine Schuldige bin?

Einen Menschen das Leben zu nehmen ist so unbegreiflich schwer, man kann es kaum in Worte fassen. Natürlich nicht der physische Akt des Mordens, für den Finger ist das drücken des Abzuges nur eine winzige, leichte Bewegung. Aber das psychische ist der wahre Kampf. Die Moral, wenn man denn eine hat. Als normale Person, mit gesundem Menschenverstand ist es unbegreiflich, wie man zu dem Entschluss kommen kann, jemanden von dieser Welt zu jagen. Ich kann mir nicht einreden, ich hätte es aus reiner Notwehr getan, denn das wäre eine pure Lüge. Damit klar zu kommen, seine eigene Seele für immer beschmutzt zu haben.... Das ist schwer und ich habe es wahrscheinlich noch immer nicht vollkommen geschafft. Werde ich vielleicht nie. Aber diese Welt ist grausam. Sie zwingt einen zu solchen Taten. Sich selbst zu verletzen, um überleben zu können...

Langsam muss ich mich entscheiden, wie mein Leben weitergehen soll.

Den Drang nach Rache habe ich noch immer, doch er ist nicht mehr ganz so stark... Jetzt muss ich herausfinden, ob die Sehnsucht nach einem sicheren und ruhigen Leben stärker ist. Was würde wohl geschehen, wenn ich die Hochzeit doch absage? Ich glaube, er würde mich nicht zu einer Heirat zwingen... Aber er würde jemand anderen Heiraten und mich weiterhin an seiner Seite lassen. Für mich wäre es fast genau da gleiche Leben, nur ohne die Macht, die mir als Oberhaupt, oder zumindest der Frau des Oberhauptes zukommen würde.

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