Teil47

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Wir sind jetzt bestimmt schon seit einigen Stunden unterwegs. Seit Rika eingeschlafen ist hat keiner mehr ein Wort gesagt. Es ist komplett still. Nicht mal das Radio ist an. Doch obwohl sich die Müdigkeit in mir immer weiter ausbreitet, will ich nicht schlafen. Ich habe Angst davor, was ich in meinen Träumen sehen werde. Angst davor wieder in Gefangenschaft aufzuwachen. Angst davor mich meinen Taten stellen zu müssen. Bin ich jetzt auch eine... Nein! Nicht daran denken! Noch nicht! Was ich getan habe, ich bin noch nicht bereit dazu, darüber nachzudenken. Alles was im Moment zählt, ist dass ich draußen bin. Nachdem Grell meinen Namen weitergegeben hat, ist nichts passiert. Das heißt also, dass mich niemand verdächtigt. Doch was ist diese Organisation eigentlich genau? Ich weiß nicht mal ihren Namen... Nur dass sie italienisch ist. Und dass sie junge Mädchen in dunkle Keller stecken und an fremde Leute verkaufen... Eigentlich will ich es gar nicht wissen.

Die Straße wird immer größer und der Wald um uns herum lichtet sich. Das Auto rast über den Beton und alles was ich tun kann, ist dem monotonen Brummen des Motors zu lauschen. Es wird stickig und die anderen dösen vor sich hin. Wie lange fahren wir schon? Stunden? Der Himmel wird immer dunkler und es wird Abend. Ich weiß nicht mal, ob schon Sommer ist oder noch Frühling... Die Müdigkeit breitet sich weiter in meinem Körper aus und die Ereignisse des Tages erschöpfen mich. Langsam zieht Morpheus mich in seine Arme.

Als ich wieder aufwache, kann ich mich nicht an meinen Traum erinnern, aber ich merke, dass er nicht schön war. Mein Körper ist mit Schweiß übersäht und ich bin immer noch müde. Rika liegt neben mir, unter einer Decke zusammengekauert. Ein Blick nach vorne verrät mir, dass wir auf einer Autobahn sind. Grell hat mit dem Fahrer Platz getauscht und seine groben Hände liegen jetzt entspannt um das Lenkrad. Durch die verdreckte Windschutzscheibe sieht man erste Sonnenstrahlen am Horizont. Ein neuer Tag beginnt. Doch dieser Gedanke gibt mir keine Hoffnung. Es stimmt zwar, dass man jeden Tag neue Chancen bekommt, aber manche Dinge kann man nicht in der Vergangenheit lassen. Egal wie gut ich heute bin, meine Taten werden trotzdem bleiben. Ich muss Schlucken. Mein inneres Ich kann noch nicht akzeptieren, was ich Gestern getan habe, aber irgendwann in naher Zukunft muss ich mich damit auseinandersetzen.

Kian. So hieß er doch, oder? Was bin ich doch für ein schlechter Mensch, dass ich mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnere... Aber ihm bringt es jetzt eh nichts mehr, dass ich seinen Namen kenne... Und überhaupt, was macht einen schlechten Menschen denn schon aus? Ist wirklich jeder Mensch von Natur aus Böse? Ist es nicht natürlich, sich wie wilde Tiere zu verhalten und Instinkten zu folgen? Freiheit, Schutz, Sicherheit. Dafür kämpft der Mensch genauso wie jedes andere Tier. Menschlichkeit. Was heißt das schon? Ist es nicht subtil zu sagen, Jemand sei menschlich, weil er Gutes tut? Man sollte Menschlichkeit daran messen, wie Gewaltbereit Jemand ist. Denn Gewaltbereitschaft ist nichts Natürliches, instinktives. Ein Löwe tötet seine Beute nicht, um sie leiden zu sehen. Er tötet sie, weil er Hunger hat. Habe ich getötet, weil ich musste...oder weil ich Menschlich bin?

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