Teil48

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Wir fahren immer weiter und weiter. Die Sonne steigt den Himmel empor und irgendwann wieder herab. Es wird dunkel, der Mond erleuchtet den Weg und wir halten zum ersten Mal an einem Autobahnrastplatz an. Grell geht etwas zu essen kaufen und wir Anderen vertreten uns die Beine. "Aber bleibt bloß in der Nähe des Wagens!", hatte uns Grell noch eingeschärft, bevor er uns den Rücken zuwandte und im Gehen etwas in sein Handy tippte. Jetzt stehe ich hier und neben mir die verschlafene Rika, leicht fröstelnd ihren verletzten Arm umklammernd. Mir sollte eigentlich auch kalt sein, aber ich spüre überhaupt nichts. Ich starre einfach nach oben. Der Mond scheint in einer Sichel am Himmel und nur wenige Wolken verdecken die vielen Sterne. Tief atme ich die kühle Luft ein. Ich kann es immer noch kaum fassen, dass ich jetzt wirklich draußen bin...

Irgendwann kommt Grell wieder zurück und drückt jeden von uns ein Sandwich in die Hand. Dankbar packe ich es aus und beiße hinein. Mann hatte ich einen Hunger! Mein ausgezerrter Körper freut sich über jede bisschen Energie. Ich muss erst einmal meine Grundbedürfnisse wieder auffüllen, bevor ich mir über meine weiteren Vorgehensweisen Gedanken machen kann.

Und ehe ich mich versehe, sitze ich schon wieder auf dem Boden des Vans in der fast vorkommenden Dunkelheit. Manchmal, wenn ich meine Augen schließe, frage ich mich, wie ich überhaupt hierhergekommen bin. Ab welchem Punkt hatte ich die unumkehrbare Linie meines Schicksals überschritten? Wäre mein Leben ganz normal weitergegangen, wenn ich nicht an jenem Tag des Unfalls stehengeblieben wäre? Wäre ich dann immer noch ein so Hilfsbereiter Mensch wie früher, der den vorausgeplanten Weg einer Muster Schülerin folgt? Früher... Früher war ich der Meinung an jedem Erlebten zu wachsen. Doch kann ich das auch über die vergangenen Monate behaupten? Das Einzige, dass ich gelernt habe, ist wie grausam Menschen sein können. Mich eingeschlossen. Auch wenn mein früheres Ich gedacht hat, es ginge ihm schlecht, weil es Panikattacken und sich immerzu streitende Eltern hatte, so war es doch in der unwissenden Blase der Unschuld vor der Welt geschützt. Diese Blase ist nun zerplatzt. Und zwar genau in dem Moment, in dem ich beschlossen hatte, meine Reinheit zu beflecken und zur Mörderin zu werden. Den das bin ich. Eine Mörderin.

Plötzlich kriege ich keine Luft mehr. Ich habe es also nicht geschafft, meine Gedanken zu unterdrücken. Die Realität meiner Schuld stürzt über mich und legt sich bleischwer auf meine Brust. Ich kann kaum noch atmen. Das ist keine gewöhnliche Panikattacke. Immer schneller schnappe ich nach Luft. An den Rändern meines Sichtfeldes bilden sich schwarze Schatten und ich spüre noch, wie jemand meinen Oberarm umklammert. Ganz dumpf höre ich ein "Alles in Ordnung? Was ist passiert?", doch ich kann nicht antworten. Alles um mich herum verschwimmt und ein Nebel empfängt mich. Ich tauche ab und die Welt wird schwarz. Mein letzter klarer Gedanke ist die Hoffnung, nicht mehr auftauchen zu müssen.

Als ich wieder aus meiner Ohnmacht erwache erlebe ich ein kurzes Deja Vu. Rika wie sie sich über mich beugt. "Wieder wach?" frägt sie mich. "Du warst nur ganz kurz Weg... Geht es dir jetzt besser?". Ich habe ihre Freundlichkeit nicht verdient. Aber da die Wahrscheinlichkeit, dass sie genauso wie ich eine Mörderin ist, besteht, kann ich ihr ins Gesicht sehen. "Alles wieder gut..." murmele ich und hoffe, dass ich meine Fähigkeit, meine Gefühle zu verbergen immer noch beherrsche. "Du bist hyperventiliert.", stellt Grell trocken fest. Mit diesen Worten versiegt das Gespräch und das innere des Vans versinkt in Schweigen. Jeder in seinen eigenen Gedanken vertieft. Und ich in ihnen gefangen. Wie lange dauert diese Fahrt noch? Ich brauche Ablenkung, und zwar schnell, denn sonst werde ich, trotz meines feurigen Verlangens nach Rache, an meinen Taten zerbrechen. 

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