Teil38

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Mo lässt ganz schön auf sich warten. Erst nach einer Stunde betritt er wieder den Raum. Ich habe nicht versucht, zu entkommen, weil ich mich in diesem Keller Gewirr wahrscheinlich eh nur verlaufen hätte... Und vielleicht ist das hier ja auch ein Test, wie folgsam ich schon geworden bin...

"Wäh, wie das Stinkt! Komm, machen wir schnell.", stöhnt Mo genervt und schiebt dann den Wagen aus der Tür. "Merk dir den Weg, ab morgen wirst du das ohne mir machen.", gibt er mir zu verstehen. Folgsam trotte ich hinter ihm her und versuche mir alles zu merken. Es ist überraschender weise nicht sehr kompliziert. Wir gehen bis ans Ende des Ganges und dann durch eine weitere, blaue Metalltür, in deren Zahlenschloss Mo eine Nummer eingibt. "Merk dir 5730", brummt er. Oh Gott, mit Zahlen bin ich gar nicht gut. Als ich den Raum hinter der Tür erblicke, ist die Nummer bereits wieder aus meinem Kopf verschwunden. Was zur Hölle ist das hier?

Ein großer Raum, sehr lang. An beiden Wänden sind Gitterstäbe. Es sieht aus, wie in einem Gefängnis. Nein, wohl eher wie in einem Kerker. Der Boden und die Wände sind aus Beton und alles wird nur spärlich beleuchtet. Hinter manchen Gitterstäben erkenne ich abgerissene Gestalten. Alle in die hinterste Ecke gekauert. Doch nicht Zellen sind belegt. Bei den leeren stehen die Türen offen. "Wer sind diese Leute?" frage ich mit leisem Ton, doch ich bekomme keine Antwort. Mo bewegt den Waagen in die Mitte des Raumes und holt den ersten Teller mit Löffel. Er schiebt die Portion durch ein breites, am Boden der Zellentüren ausgesägtes Rechteck. Das Loch hat die perfekte Größe, um einen Teller in das innere der Zelle zu schieben. Gleichzeitig ist es so schmal, dass man wohl nicht mal einen Fuß durchschieben könnte...

Auffordernd schaut Mo mich an. Ich eile zu ihm und nehme ebenfalls eine Portion. Dann gehe ich die Metallstangen entlang, bis ich eine Zelle sehe, in der ein junges Mädchen, ohne Essen sitzt. Sie schaut mich aus großen, leeren, emotionslosen Augen an. Sie wirkt leblos. Der Glanz fehlt. Vorsichtig versuche ich ein beruhigendes Lächeln, doch sie starrt durch mich hindurch. Wie alt mag sie wohl sein? Vielleicht sogar jünger als ich... Ein Schauder des Grauens fährt mir über den Rücken. Warum ist sie hier? Was kann sie Schlimmes getan haben, um in einer dunklen, dreckigen Zelle eingesperrt zu werden? Ich gehe in die Hocke und schiebe ihr den Teller hin. "Hier... für dich" flüstere ich und lege so viel wärme wie möglich darin. "Nicht reden!", befiehlt mir Mo von hinten. Was? Warum? Aber ich sollte besser gehorchen. Egal wie sehr ich mich für den Gedanken hasse, ich will auf keinen Fall in so einer Zelle landen... Wie selbstsüchtig ich doch bin.

Als ich mich wieder aufrichte fällt es mir schwer, dem Mädchen, den Rücken zuzukehren. Wie schrecklich es hier ist! Ich will ihnen doch helfen! Sie haben ihr Schicksal bestimmt nicht verdient! Doch ich kann nichts tun. Zumindest nichts, dass mich nicht selbst in den Abgrund reißen würde. Ich will Leben! Aber ist das Wissen, dass ich ihnen tatenlos dabei zusehe, wie ihnen Unrecht getan wird nicht genauso schlimm? Kann ich damit Leben? Bin ich wirklich selbstsüchtig genug? Es ist leicht, sein Wohl an erster Stelle zu setzen. Es gibt in dieser Welt Helden und es gibt Feiglinge. Ich gehöre eindeutig zu zweitem. Aber Helden sind auch die, die ihren gewöhnlichen Menschenverstand über Bord werfen und sich aufopfern, um andere zu schützen. Ist es nicht selbstsüchtig von ihnen, ihren Willen, an erster Stelle zu setzten und über den Köpfen hinweg zu entscheiden? Zwingen die Helden nicht alle anderen dazu, Feiglinge zu sein? Als Feigling benutzt man seinen Instinkt zum Überleben. Warum sich selbst in Gefahr begeben, wenn es einen Helden gibt, der es für dich tut? Jedoch hier, in diesem Moment, diesem Keller, bin ich die Einzige, die die Heldin spielen könnte. Aber ich tue es nicht.

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