Teil53

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"Habe ich?", versuche ich seiner Frage auszuweichen. Doch Finn lässt nicht locker. "Kanntest du ihn?", fährt er mit seiner Fragerei fort. "...Nur flüchtig...", antworte ich wage. Ich bin noch immer benommen von meinem Alptraum, doch mir bleibt keine Zeit mich zu erholen. Ich muss genaustens darauf Achten, was ich jetzt sage. Jedes Wort mit Bedacht wählen! Finn redet weiter: "Weißt du, er ist wie ein Bruder für mich... gewesen... Hab ihn lange nicht mehr gesehen und jetzt weiß man nicht mal, ob er von der Polizei festgenommen wurde und noch lebt oder wie die anderen gestorben ist...".

Nachdenklich schaut Finn an die Decke. Seine Augen zeugen von Abwesenheit. Wahrscheinlich schwelgt er gerade in Erinnerungen. Aber ich will nicht wissen welche! Ich will überhaupt nichts über ihn oder Kian wissen! Ich will einfach nur raus hier! Allein sein und in Ruhe herausfinden, was meine Taten mit mir angestellt haben. Doch Finn hört nicht auf.

"Kian und ich sind zusammen aufgewachsen...", fährt er fort. Ich versuche nicht hinzuhören, doch jedes Wort hallt laut durch das stille Zimmer. "Wir waren Kinder der Straße und haben uns gegenseitig versorgt. Und eines Tages haben wir uns gemeinsam der Familie angeschlossen. Er wollte eigentlich nicht, aber ich habe ihn dazu überredet... Doch es hat uns verändert. Ich glaube genau vor dieser Veränderung hatte er Angst. Kian ist immer kälter geworden und irgendwann haben sich unsere Wege getrennt... Aber ich denke trotzdem oft an ihn. Hoffentlich geht es ihm gut und er konnte irgendwie entkommen... Ich würde mir ein Wiedersehen mit meinem kleinen Bruder wünschen."

Finn blickt noch immer an die Decke. Seit er angefangen hatte, über seine Kindheit zu sprechen, hat er kein einziges Mal geblinzelt. Vielleicht hat er Angst, dass ihm eine Träne entwischt? Doch seine Gefühle interessieren mich nicht! Er sollte doch bloß ein Mittel zum Zweck sein. Eine Ablenkung. Doch jetzt verschlimmert er nur das ungute Gefühl tief im innersten meiner Brust!

Was Kian für ein Mensch war. Das sind Informationen, die ich um jeden Preis vermeiden sollte, wenn ich meine Vernunft beibehalten und nicht verrückt werden will.

"Finn, das mit deinem Bruder tut mir wirklich leid, aber ich glaube nicht, dass wir über den geleichen Kian reden." Eine Lüge, der Name ist nicht gerade verbreitet und die Wahrscheinlichkeit, dass es noch einen zweiten Kian in diesem Haus im Wald gab, ist viel zu klein. "Ich hoffe, dass kommt jetzt nicht zu unhöflich rüber, aber ich würde gerne Duschen, also kannst du mich bitte allein lassen?". Ein anderer Weg, um ihn loszuwerden fällt mir auf die Schnelle nicht ein. Ich hoffe bloß, dass meine und Finns Wege sich in Zukunft nicht mehr überkreuzen, den sonst wird das sehr unangenehm. Ich behandle ihn wie einen One-Night-Stand, obwohl er gerade, den Tränen nahe, mir seine Erinnerungen offenbart.

Erstaunt schaut er mich an. Einen kurzen Moment spiegelt sich ein Ausdruck der Verletztheit in seinem Gesicht, doch er verbirgt sie schnell wider. "Achso, tut mir leid, dass ich dich so vollgelabert habe... Man sieht sich.", sagt er kühl und nun wandelt sich sein Blick in pure Kälte um. Er steht auf und verlässt den Raum. Shit, ich mach mich ja nicht gerade beliebt. Hoffentlich ist er kein hohes Tier in dieser Organisation...

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