6 - Erholung

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"Wie geht es dir heute?" Anavi saß auf der Bettkante und ließ sich von Lorsan die Schiene und die Verbände abnehmen. Maia stand neben ihm und nahm das benutze Material entgegen.
"Besser. Ich fühle mich endlich nicht mehr müde. Vielen Dank."
Der Heiler nickte und strich über die Stelle, an der der Bruch war. "Schmerzen?"
Anavi schüttelte den Kopf, dann wippte sie mit dem Bein. "Alles gut."
"Gut." Lorsan sah zu Maia. "Drei Wochen."
"Gute Zeit, gute Knochen." Sie lachte. "Oder doch nur ein guter Arzt?"

"Könnte ich jemanden nur durch Handauflegen heilen, dann hätte man mich längst aus dem Palast gejagt." Er blieb vollkommen ernst. "Du weißt, was der König von Magie hält."
"Jaja, schon gut." Sie klopfte ihm auf die Schulter. Nun, da er kniete, waren sie auf Augenhöhe.
Dann wandte der Heiler sich wieder an seine Patientin: "Die Knochen sind verheilt, das ist kein Problem mehr. Aber fang erst mit leichten Arbeiten an." Er stand auf. "Den Rest übernimmt Maia."

"In Ordnung. Ich bringe dir nachher das Essen und berichte." Sie kicherte, während der Heiler kopfschüttelnd und mit einer knappen Verabschiedung das Krankenzimmer verlies.
"Ah, du wirst noch lernen ihn zu mögen. Steh jetzt erstmal auf. Ich empfehle ein heißes Bad und neue Kleidung, damit du wieder in den Tag starten kannst."
Anavi nickte und sah zu einem der Fenster. Hinter den Dächern der Stadt erhob sich gerade die goldene Sonne zu ihrer täglichen Reise.
"Noch einmal vielen Dank, Maia. Für eure Hilfe einer Fremden."

"Oh, du bist doch keine Fremde, Kind." Die Frau lachte kurz. "Jetzt bist du meine Freundin und Helferin. Lorsan verlässt sich auf uns. Auch, wenn er es nur ungern zugeben möchte."
Anavi nickte, lächelte und erhob sich endlich vom Krankenbett. Erst war sie noch etwas unsicher auf den Beinen, doch Maia nahm ihre Hand und stützte sie die ersten Schritte zur Tür, durch die auch der Heiler verschwunden war.

"Auf dem Weg zeige ich dir gleich den Flügel." Der Boden unter ihren nackten Füßen war kalt, während sie der Älteren folgte. Zumindest bis in den nächsten Raum, der mit flauschigem Teppich ausgelegt war.
"Das Arbeitszimmer. Lorsan ist hier, wenn es Patienten gibt oder wichtige Post zu bearbeiten. Manchmal schläft er auch hier, räumt Decke und Kissen aber selbst wieder auf.", erklärte die Frau und deutete auf den Schreibtisch an der Wand und ein Sofa gegenüber der Tür. Unteranderem standen auch zwei Regale im Raum, lückenlos gefüllt mit Büchern.
"Die Bücher sind eigentlich frei zugänglich, aber er mag es nicht, wenn man ihn stört. Nimm dir also lieber etwas aus der Bibliothek, wenn du lesen möchtest."

"Oh, ich kann gar nicht lesen. Glaube ich.", unterbrach Anavi schnell. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass dies etwas war, das keiner wissen sollte.
Maia nickte nur verstehend und führte sie auf den Gang.
Dort war es dunkler, als in den Zimmern, trotzdem genügte das Licht zweier großer Fenster in Nischen zwischen den Räumen, um ihn zu erhellen und verschiedene Vitrinen und ihren Inhalt zu erkennen. "Geschenke von den Bürgern der Stadt. Die, denen er hilft. Aber sag nichts davon im Palast weiter. Er hat sich einen schlechten Ruf aufgebaut und möchte ihn behalten."
Diesmal nickte Anavi, doch ihr Blick wurde auf ein Objekt auf der anderen Seite des Ganges gelenkt. Wie magisch angezogen trat sie an das verglaste Regal heran und betrachtete den dünnen, silbernen Reif.
"Das sieht nicht nach einem Geschenk aus.", bemerkte sie leise. Maias Erklärung war kryptisch: "Das ist eine Erinnerung an seine Bürde. Glaub mir, Lorsan wäre an jedem Ort der Welt lieber als in diesem Palast."

Sie gingen weiter und Maia erklärte, wohin die Türe zu beiden Seiten führten. Von einem Lagerraum für Kräuter und medizinisches Gerät über die bereits erwähnte Bibliothek, die drei verbundene Räume umfassen sollte und trotzdem kaum Platz für die Sammlung des Heilers bot, sowie dessen Gemach und ein angrenzender kleiner Salon für Gäste war der Flügel gut ausgestattet.

Kurz vor einer hellen, mit Gold verzierten Tür öffnete Maia die Tür auf der rechten Seite und bat Anavi einzutreten.
Dahinter erstreckte sich ein Raum, so groß wie das Krankenzimmer, in dem drei Betten und Schränke standen. Die Wände waren mit Holz verkleidet, durch drei große Fenster fiel Licht.
"Das ist unser Raum. Wundere dich nicht über das dritte Bett, er wollte für den Fall vorgesorgt haben, dass noch jemand kommt. Das äußere ist meines, der Schrank daneben auch. Such dir deines ruhig schon aus, ich lasse das Wasser ein."

Sprachlos betrachtete die Frau den Raum, während die Rothaarige durch eine Tür an der Seite verschwand, aus der bald das Geräusch fließenden Wassers drang.
Anavi mochte sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnern, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass solch eine Fürsorge nicht jedem Bediensteten des Landes geboten wurde. Und sicher war es mehr, als sie in ihrem alten Leben hatte.
Ein Leben, das nun endgültig hinter ihr lag.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt