19 - Angriff

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Wieder kam der Morgen zu schnell. Zu früh klopfte es an der Tür des gemeinsamen Zimmers, in dem Anavi gerade mit den letzten Handgriffen ihr Haar zurückflocht. Sie trug eines der einfachen und praktischen Alltagskleider, die sie im Gegensatz zu Maia nicht während der Arbeit trug. Es war unauffälliger als das letzte Kleid, dass sie in die Stadt getragen hatte.

"Eine Sekunde.", rief sie und warf sich den dunklen Umhang über, den Maia ihr am Abend gegeben hatte. Auf Lorsans Wunsch und wohl auch einer von seinen, da er ein Stück zu lang war und über den Boden schleifte.
"Bin fertig." Sie riss die Tür auf, im Wissen, dass sie sich verspätet hatte.

Lorsan wartete bereits auf sie, sah jedoch nicht ungeduldig aus. Stattdessen wirkte er nachdenklich, als sorgte er sich um den Ausgang des Angriffs auf das Versteck.
Dafur war er zumindest passnd gekleidet. Eine komplette Ledergarnitur mit silbernen Metallplatten um Gelenke und Brust ließen ihn mehr wie einen Soldaten und weniger einen Heiler aussehen. Von der Medizintasche um die Hüfte und den gleichen dunklen Umhang wie ihren abgesehen.
"Sieh es nicht als Angriff, aber das sollte gehen. Leg bitte das hier noch an." Er reichte ihr ein einfaches, braunes Tuch. "Versteck damit deine Haare. Einer von ihnen könnte dich sonst angreifen. Und das, für genau diesen Fall." Ein silberner Dolch fand den Weg in eine versteckte Halterung des Kleides. "Hoffentlich brauchst du ihn nicht."

"Hoffentlich.", verstärkte sie und band sich das Tuch um, dann folgte sie ihm auf den Innenhof.
Donner wartete bereits auf die beiden. Allein stand er auf dem Hof und scharrte unruhig mit den Hufen.
Ihr fiel erst beim näherkommen auf, dass er nicht angebunden war sondern brav auf seinen Reiter wartete.
"Die anderen sind schon vorgegangen,wir sollten uns also beeilen." Lorsan stieg auf und half ihr wieder, hinter sich aufzusteigen, dann trieb er den Hengst langsam an. Ein kurzer Pfiff in den anbrechenden Tag ließ weitere Schritte ertönen. "Erschrick nicht. Das sind Freunde von mir."

Neugierig sah Anavi zur Seite, wo zwei große, graue Wölfe erschienen und im gleichen Tempo neben dem Pferd herliefen. "Wölfe?", fragte sie nach und schob sich näher an den Heiler. "Warum hast du Wölfe?"
"Sie waren verletzt, als ich sie gefunden habe. Sind in die Falle von Jägern gestürzt. Ich habe sie verarztet und seitdem helfen sie mir. Feder habe ich auch verletzt gefunden. Er ist aus dem Nest gefallen, bevor er fliegen konnte. Und Donner..." Er klopfte dem Pferd an den Hals. "Ihn habe ich während einer Jagd im Lager von Straßenräubern gefunden und war zufällig der Einzige, den er in seine Nähe gelassen hat." Das Pferd schnaubte zustimmend, Anavis Fragen waren jedoch noch nicht gestillt.
"Und dir werden Haustiere erlaubt? Noch dazu zwei Wölfe?"
"Nicht direkt. Feder, mein Rabe, hat sein Nest in meinem Zimmer. Auf einem der Schränke habe ich ein paar Tücher ausgelegt. Donner ist ein Pferd, also offiziell im Stall. Und Sun und Sur... hast du dich beim waschen am Fluss noch nie beobachtet gefühlt? Sie verstecken sich gerne am Waldrand dahinter und beobachten den Palast."

Sie hatte tatsächlich einmal Blicke auf sich gespürt, aber es auf die anderen Frauen geschoben, die sich wegen ihres Arbeitgebers von ihr fernhielten.
Eine Antwort konnte sie ihm nicht mehr geben, da Donner den versteckten Weg, dem sie gefolgt sind, verließ und  zwischen verlassenen Häusern die Unterstadt betrat.

"Sun. Sur. Wachsam.", flüsterte er, worauf die Wölfe die Ohren aufstellten und die Nasen in die Luft streckten. Dann wandte er sich an Anavi: "Den Rest laufen wir."
Sie stieg wieder ab, hielt jedoch Abstand zu den Wölfen. Da einer wohl auf den Namen Sur hörte, hätte er sie stattdessen in seiner Obhut gelassen. "Noch kannst du hierbleiben. Sur bleibt auch bei dir und passt auf."

"Ich sagte doch, dass ich mitkomme." Anavi ging an dem Pferd vorbei, hielt aber trotzdem Abstand zu den Wölfen. Sie schienen ihr größer, als sie sein sollten und waren sicher auch gefährlicher, wenn jemand eine Bedrohung für Lorsan darstellte.
"Ich werde dich zu nichts überreden." Lorsan schlug sich die Kapuze des Umhangs über den Kopf und bat sie ebenfalls darum.

Still schlichen sie durch die leeren Straßen, die Wölfe lautlos an ihrer Seite, bis Lorsan irgendwann ihre Hand nahm und in eine Gasse zog.
Dort warteten bereits andere Männer in den Rüstungen der Stadtwache - und zwei Frauen. Aber keine von ihnen war Faria.

"Auch endlich da, verehrter Heiler." Die Stimme des Sprechers triefte vor Sarkasmus. "Ich dachte schon, du hast dir einen Nagel abgebrochen und drückst dich."
"Ohne mich wären wir nicht hier, Majestät.", erwiderte Lorsan und trat zwischen die Soldaten. "Laut meiner Informationen befinden sich die Jäger in diesem Gebäude. Wichtig ist, ihren Anführer gefangen zu nehmen und die Entführten zu befreien. Lasst einfach keinen entkommen."

"Wie du meinst." Der Prinz, seine Gestalt ebenfalls unter Umhang und Kapuze verborgen deutete in verschiedene Richtungen rund um das Haus auf der anderen Seite der Gasse, worauf sich die Soldaten in diese Richtungen verteilten. Die Frauen blieben bei ihm und ignorierten Anavi. "Wir nehmen die Tür. Wo bleibt dein Zeichen?"
Der Heiler hob den Kopf und Anavi folgte seinem Blick. Auf dem Dach des Hauses saß ein schwarzer Vogel und putzte sich das Gefieder. "Sobald er aufhört."

Als hätte der Rabe das gehört stoppte er die Pflege, schrie auf und flog davon. Gleichzeitig liefen der Prinz und seine Begleiterinnen los. Lorsan und Anavi blieben zurück und wurden kurz darauf von dem Raben aufgesucht, der sich nun auf der Schulter des Heilers niederließ.
Der Angriff hatte begonnen.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt