"Tut mir leid, wegen gestern. Der König hatte etwas ganz Wichtiges zu besprechen." Rosalie stöhnte genervt und stocherte lustlos in dem farblosen Brei herum. Ihr Frühstück unterschied sich deutlich von den restlichen aufgetischten Brötchen und Belägen, dazu verschiedenes Obst.
"War es wirklich wichtig? Oder hat er es für wichtig gehalten?" Lorsan knabberte ebenso lustlos an seinem Brot. Hatte Anavi ihn je frühstücken sehen? Selbst Maia und sie hatten sich nach der Morgenwäsche im Speiseraum der Angestellten getroffen."Hm, war tatsächlich wichtig." Sie schüttelte den Kopf. "Aber ich hatte mehrere freie Tage beantragt. Und dann muss ich mich mit so etwas herumschlagen." Der Löffel fasste sie wie ein Messer und stieß ihn in den Brei. "Vielleicht sollte ich einfach zurücktreten und mir die Welt ansehen." Sie lächelte gedankenverloren. "Berg besuchen und dann nach Sora gehen. Dort kann ich getrost den Rest meines Lebens verbringen."
"Ich würde dich vermissen. Und das Volk von Mida auch." Der Heiler stützte den Kopf auf die Hände, das Brot vergessen. "Es gibt viele, die dich unterstützen würden."
"Mag sein. Nur... wäre ich eine gute Königin? Alles was ich kann ist kämpfen."
"Du kannst Entscheidungen treffen. Setz gute Berater ein, bessere als Ricimer. Du kannst zumindest das Volk schützen."
"Hm..." Rosalie rührte ihr Essen um. Zäh zog sich der Brei unter der Bewegung. "Ich denke darüber nach. Und im Zweifel, kann ich immer noch dich als Berater einsetzen." Sie lachte und schob ihre Schüssel von sich. Stattdessen griff sie sich ebenfalls eine Scheibe Brot und belegte sie mit einigen Scheiben einer gelben Frucht. "Aber zuerst zeige ich euch beiden die Stadt. Die Wunder Herib-Vos werden euch begeistern."
"Herib-Vo? So heißt die Stadt?" Anavis Teller war noch immer leer. Ihr Hunger war nicht vorhanden.
"Stimmt." Rosa grinste zwischen zwei Bissen und erzählte. "Die ursprüngliche Hauptstadt Mings, Herib, liegt weiter im Osten. Näher an der Grenze zum leeren Land. Leider haben die kriegerischen Stämme von dort dafür gesorgt, dass das Gebiet inzwischen zum Kriegsschauplatz wurde. Herib-Vo wurde dann näher an der Grenze zu Mida neu errichtete, da von Mida keine ernsthafte Bedrohung zu erwarten ist. Es wurde auch einige Sehenswürdigkeiten kopiert."
"Die Geschichte kenne ich auch. Vo bedeutet wohl so viel wie Zwei . Die Altstadt ist eine genaue Kopie der ursprünglichen Stadt. Das Königshaus hat einen großen Aufwand betrieben, um eine Rückkehr nach Herib unwahrscheinlich zu machen."
"Ich finde es übertrieben." Rosa klopfte auf ihren Teller. "Aber ich lebe hier nur. Ich darf mir Gedanken über Sinnlosigkeit machen. Außerdem sind die Stämme aus dem leeren Land schon seit Jahren nicht weiter vorgedrungen." In Gedanken ließ sie ihren Blick an die Wand schweifen. "Ich habe in meinen ersten Einsätzen die Ruinen der Stadt gesehen. Die Stämme sind nicht bis an ihre Mauern gekommen, ihre Feldlager endeten mehrere Tage entfernt. Trotzdem gibt es keine Anreize zurückzukehren. Ich bin mir sicher, wenn der König es versucht, könnte er Frieden mit ihnen schließen. Vielleicht ließe sich sogar Handel treiben."
Interessiert horchte Anavi auf. "Das klingt, als seist du diesen Stämmen bereits begegnet?"
"Bin ich." Rosa lächelte. "Ich habe mich sogar mit einigen der Anführern unterhalten. Nur weil sie keine befestigten Städte bauen, heißt das nicht, dass sie nicht zivilisiert sind. Ihre gesamte Gesellschaft beschränkt sich auf wenige Regeln. Sie sagen immer die Wahrheit. Sie respektieren einander und ihre Natur. Wenn ich mir dagegen die Ausbeutung der Minen und Rodungen der Wälder hier ansehe... Manchmal denke ich schon, dass ich lieber zu den Stämmen wechseln sollte."
"Was hält dich dann hier?" Lorsan lehnte sich zurück. "Bei diesen Stämmen taucht zumindest Faria nicht auf und wirbt dich als neue Königin an."
"Der Luxus, die befestigten Straßen und... Königin?!" Rosa war sofort zurück aus ihren Gedanken und ließ das Messer klirrend fallen, als sie sich aufrichtete und ihren Bruder überrascht ansah. "Warum sollte Faria auftauchen und mich zur Königin machen?"
"Ähm..." Der Blick des Heilers huschte unsicher durch den Raum, dann blieb er auf Anavi haften. "Du solltest vielleicht kurz den Raum verlassen. Es gibt da etwas, dass dich verstören könnte."
"Schon gut. Erzähl." Anavi schüttelte den Kopf und erwiderte den Blick interessiert.
Der Heiler seufzte und zog den Kopf zurück. Er wandte sich an Rosalie: "Du erinnerst dich sicher, dass Faria mal die Idee eines Putsches formuliert hat. Arbeitstitel König Lorsan. " Rosalie nickte. "Vor meiner Abreise habe ich es ihr erfolgreich ausgeredet. Und dich stattdessen vorgeschlagen. Darum..."
"Ich und Königin? Mit der Organisation als Unterstützer?" Es klang weniger wie eine Frage. Wieder glitt ihr Blick in die Ferne. Ihre Stimme blieb ruhig. "Das... klingt nach einem Plan." Plötzlich grinste sie. Anavi meinte sich zu erinnern, dass sie nur kurz zuvor unsicher war, ob sie eine gute Königin sein könnte. "Königin Rosalie von Mida. Klingt nicht gefährlich, aber man würde mich unterschätzen." Sie drehte ihr Messer in der Hand und deutete mit dem Griff auf Lorsan. "Und du wirst mich beraten. Kein Prinz, aber die Verantwortung mich von sinnlosen Kriegen abzuhalten."
"Darüber können wir sprechen, wenn ich meine Familie gefunden habe." Lorsans Stimme war leiser geworden. "Und ich komme erst dazu, wenn du den Thron hast. Respen will ich nicht begegnen."
"Einverstanden." Rosalie seufzte und ließ sich wieder in den Stuhl sinken. Unbemerkt war sie aufgestanden und hatte die Hände auf den Tisch gestützt. "Dann sollten wir jetzt langsam los, oder? Ich will euch noch was zeigen, bevor die Massen auf der Straße sind."
Anavi überraschte der fließende Übergang ihrer Pläne, wollte jedoch die Letzte sein, die sich die zukünftige Königin von Mida zum Feind machte. Sie nickte und folgte Lorsan hinter Rosalie aus dem Speisezimmer, wo sofort einige der Dienstmädchen den Tisch abräumten.
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Der verlorene Prinz
FantasíaAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...