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Vorsichtig überblickte Anavi den Gastraum, kurz bevor sie die Treppe verließ. Er war nicht sehr voll, aber die Frauen vom Abend waren nicht unter den Gästen zu sehen.
"Denkst du wirklich, sie sind noch da? Die beiden sind sicher schon ein paar Kunden reicher." Lorsan nahm ihre Hand und zog sie in den Raum.

"Und wenn die noch da wären? Ich habe dich gestern als meinen Mann bezeichnet. Wenn das rauskommt, wer weiß welche Probleme das gibt." Die auffälligste Person war eine vermummte Gestalt deren Blick ebenfalls den Raum sondierte. "Der Beamte..."
"Hat gestern unseren Tumult mitbekommen. Er hat geklopft, als du schon eingeschlafen warst und ich habe ihm die Situation erklärt. Es gibt höchstens für die beiden Ärger." Lorsan lächelte und zog sie durch den Raum. "Jetzt lass uns gehen. Rosa wartet nicht gern."

"Tut sie nicht." Die vermummte Gestalt hatte den Heiler fixiert und nach seinem Arm gegriffen. Viel zu schnell fand Anavi sich auf der Bank ihr gegenüber wieder, ein genauso überraschter Lorsan neben sich.
"Wollten wir uns nicht erst später treffen?" Der Heiler seufzte und schüttelte den Kopf, nachdem er den Fremden erkannt hatte.
Der Fremde spiegelte seine Bewegung und schob sich die Kapuze vom Haar und das Tuch aus dem Gesicht. Zum Vorschein kam eine Frau mit hellblauen Augen und hellem goldenen Haar. Anavi schätzte sie zehn Jahre älter als Lorsan. "Ich wollte nicht warten. Richtig erkannt, Prinzessin."

"Schon dich zu sehen, Rosa."
Sie lachte und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. "Und es ist schön dich zu sehen. Willkommen in Ming, Kleiner. Das hattest du schon zu lange aufgeschoben." Sie sah zu Anavi und streckte den Arm über den Tisch. "Und du bist sicher die Kleine aus dem Fluss? Ich bin Rosalie, kurz Rosa."
"Anavi..." Unsicher nahm sie die Hand, bedeckt von einem kühlen, schwarzen Handschuh. Die Frau schien freundlich, doch gleichzeitig jagte ihr Anblick einen Schauer durch die Knochen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. "Sehr erfreut."

"Oh nein, die Freude ist bei mir. Zwischen Lorsan und dir ist also nichts? Nur Arbeit?"
"Rosa...", versuchte der Heiler sie zu unterbrechen, erntete jedoch nur eine unwirsche Handbewegung.
"Also bist du noch zu haben, Kleine?"
Erschrocken zog Anavi die Hand zurück und drückte sich gegen das Holz der Sitzbank. Lorsan seufzte. "Der Strohkopf hat vor ein paar Wochen noch versucht sie zu vergewaltigen und du fängst damit an? Ich hatte mehr Taktgefühl erwartet, Rosa."

"War doch nur eine Frage." Rosa lachte und schüttelte den Kopf. "Gut gut. Entschuldige die direkte Frage, Anavi. Darfst mir dafür auch eine stellen."
Sie schüttelte den Kopf. Ihr gingen zwar einige durch den Kopf, doch im Moment wollte sie sich nur von der Frau fernhalten.
Die wechselte kurzerhand das Thema: "Im Übrigen bin ich pünktlich am Treffpunkt. Ihr habt verschlafen."
"Wollten wir uns nicht am zweiten Tag treffen?" Lorsan kramte in seinen Taschen und zog den Zettel vom Vortag heraus. "Ja, zweiter Tag."
"Der ist jetzt. Und das zweite Dorf ist nur eine Stunde von hier, also warum sollte ich dort warten?"
"Du legst auch alles so, wie es gerade passt, oder?"
"Natürlich. Sonst wäre ich kaum, wo ich jetzt bin."

"Eine verbannte Prinz..." Schnell schlug Anavi ihre Hände vor den Mund. Wo waren nur ihre Gedanken, dass sie sie laut aussprach?
"Auch." Rosa grinste. "Vor allem aber in einer hohen Position in diesem Land. Die Geschichte erzähle ich dir, wenn wir in der Stadt sind. Und jetzt sollten wir los. Oder wollt ihr vor den Toren übernachten?"
"Es ist zwar erst Morgen, aber gut. Lass uns aufbrechen." Lorsan griff Anavis Hand und zog sie aus der Sitzecke. Rosalie kicherte noch, dann stand auch sie auf und überraschte Anavi. Stehend und im direkten Vergleich mit dem Heiler überragte sie ihn nochmals um zwei Köpfe.

"Schon wieder so schweigsam? Ich bin dir Frage doch nicht böse." Die Frau hatte ihren Blick bemerkt und ließ es sich nicht nehmen, sie darauf noch anzusprechen.
"Was denkst du?", nahm Lorsan vorweg. "Frauen sind nicht oft größer als Männer. Das erstaunt jeden. Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung?"
Anavi nickte. "Das ist... ungewöhnlich."
"Ja ja, schon gut." Rosa wedelte mit der Hand. "Aber gleich gesagt: die Größe habe ich nicht Ricimer zu verdanken."
"Eure Mutter?" Unsicher wich Anavi dem Blick aus. War es noch zu früh, sie darauf anzusprechen?
"Ja, vermutlich." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich hab sie leider schon früh verloren, aber mir wurden noch ein paar Dinge über sie erzählt. Aber das Thema vertiefen wir ein andermal. Auf geht's! Oder ihr schlaft doch vor der Tür." Sie rauschte aus dem Gastraum, was ihr einen missmutigen Blick des Wirts einbrachte.

"Das war... unerwartet." Lorsan sah ihr einen Moment nach. "Ich hatte erwartet, sie würde der Frage ausweichen."
"Habe ich sie im richtigen Moment gefragt, oder hatte ich nur Glück?" Sie zog eine Strähne aus ihrem Zopf und drehte sie zwischen den Fingern.
"Ich denke eher, dass sie dich mag." Der Heiler lächelte. "Aber das bleibt nicht so, wenn wir sie noch länger warten lassen. Brauchst du noch was?" Er nahm ihr die Strähne weg und strich sie ihr hinter das Ohr.
"Nein. Gehen wir.", beeilte sie sich, bevor die leichte Berührung sie wieder ihr Ziel aus den Augen verlieren ließ.

Vor dem Gasthaus wartete Rosa bereits auf einer schneeweißen Stute. Donner und Hylia standen daneben, fertig gesattelt. Es fehlten nur noch die Taschen, die der Heiler bei dich trug und schnell befestigte.
"Bereit?"
Anavi stieg gerade noch in den Sattel, als die große Frau bereits lospreschte. Lorsan und sie folgten nicht im schnellen Galopp, holten sie aber dennoch bald ein.
Den restlichen Tag hörten sie ihren Ausführungen über Wirtschaft und Natur Mings zu.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt