"Was meintest du mit geliehen?" Anavi saß nervös auf dem Stuhl im Wartebereich neben den Umkleiden und sah zu Rosalie auf. "Müssen wir etwas beachten?"
"Dass ihr die Sachen nicht kaputt macht." Entspannt lehnte sie an der Wand und behielt den Gang im Auge. "Gäste können sich die Festkleidung ausleihen. Es müssen so nur einige Änderungen an den Sachen vorgenommen werden und nichts neues geschneidert. Nach dem Fest wird es zurückgegeben, gereinigt und für die nächsten Kunden vorbereitet. Damit habe ich auch an meinen ersten Festen teilgenommen."
"Verdienen die Schneider dann überhaupt daran?" Immerhin müssen sie trotzdem die Stoffe auslegen und Arbeitszeit in die Kleider stecken.
"Natürlich. Jeder der etwas leiht zahlt eine Gebühr. In wenigen Jahren sind die Kleider abgezahlt und der Schneider macht Gewinn." Rosalie kannte sich gut mit diesem Thema aus. Es überraschte Anavi, da sie bisher dachte, dass sie lediglich eine Kriegerin sei, keine Geschäftsfrau.Ihr Blick wanderte zu Lorsan, der konzentriert ein Buch in Händen hielt und stumm las. Er hatte es kurz zuvor aus einer Tasche gezaubert, als hätte er eine längere Wartezeit bereits erwartet. "Kein schlechtes System. Die Gäste bringen keine einmalig verwendeten Kleider mit nach Hause und können trotzdem am Fest teilnehmen. Obwohl..." Er sah auf. "Wenn ich mich richtig erinnere, könnten wir auch in unserer Reisekleidung teilnehmen."
"Aber das ist nicht schön. Und außerdem auffälliger, als in der Masse zu verschwinden." Rosalie verschränkte die Arme vor der Brust. "Außerdem ist es schöner, sich in eine fremde Kultur einzufügen und ihre Traditionen zu übernehmen. Das macht die Welt bunter."
"Ich kann also nichts sagen, um aus de Sache wieder rauszukommen?" Er klappte das Buch zu, lehnte sich zurück und verschloss es zwischen den Händen. "Egal was?"
"Hm..." Nachdenklich tippte sich die Ältere an das Kinn und überlegte kurz. "Wenn du mit einer wirklich originellen Ausrede kommst überleg ich es mir. Aber vergiss nicht, dass Anavi das Fest gerne besuchen möchte. Ich such mal nach dem Schneider. Kann doch nicht so lange dauern etwas passendes zu finden." Die drehte sich um und verschwand aus dem Warteraum."Willst du auch nicht gehen, obwohl dich hier niemand der Welt als Prinzen vorstellen will?" Anavi sah auf das Buch, der Einband unter einem Umschlag verborgen. "Oder fehlt dir die persönliche Einladung der Königin?"
"Nein. Ich mache mir nur Sorgen." Der Heiler seufzte. "Unnötig vermutlich, aber trotzdem nicht zu verdrängen. Aber lass dir von mir nicht die Vorfreude verderben."
"Tue ich nicht." Sie senkte den Blick zu Boden, besser auf ihre Hände, die sie nervös knetete. "Aber Rosalie scheint sich zu freuen, uns mitnehmen zu können. Sie lebt schon länger hier und hatte nie die Gelegenheit, ihrem kleinen Bruder das Fest zu zeigen. Sie hatte nie ihre Familie hier." Ihre Augen brannten und schnell wischte sie sich darüber. Warum löste der Gedanke an eine Familie eine solche Reaktion bei ihr aus? Gab es eine Erinnerung, die sie nicht abrufen konnte? Doch eine liebende Familie, die sie vermisste und die sie gern an ihrer Seite wollte?"Da... hast du wohl recht. Ich wollte dich nicht verletzten." Der Stuhl knarzte kurz, als er aufstand und zu ihr ging. Ihre freie Hand nahm und ihre Aufmerksamkeit forderte. Er hatte sich vor sie in die Hocke gesetzt und sah sie aufmunternd an. Stumm schüttelte sie den Kopf. "Du hast mich nicht verletzt." Anavi sprach leise, damit die Trauer ihre Stimme nicht brechen ließ. "Es ist nur... ich weiß nicht was es ist. Ich denke an Rosalie, wie einsam sie am Anfang gewesen sein muss. Ohne Familie und..."
"Du bist auch einsam, oder? Du weißt nicht, ob du noch eine Familie hast, wo sie ist. Aber erst jetzt, wo wir schon so weit von Mida weg sind, wird es dir bewusst. Davor hättest du jederzeit die Möglichkeit gehabt nach ihnen zu suchen." Er sprach aus was sie fühlte, worauf sie nur nickte. Er verstand sie gut, oder lagen ihre Gefühle nur zu offen?
"Wenn du möchtest, dann helfe ich dir bei der Suche. So wie du mich jetzt begleitest." Lorsan strich mit dem Daumen gleichmäßig über ihren Handrücken. Einen kurzen Moment schien sein Blick in die Ferne zu schweifen. Einen Punkt zu sehen, den nur er erfassen konnte. "Wer weiß, vielleicht hat meine Familie mich freiwillig weggeben und jagt mich davon. Dann brauche ich sowieso ein neues Ziel.""Und wenn ich in Warn nach ihnen suchen will? Oder muss?" Immerhin kam sie von dort. Selbst Lady Mina hatte etwas in dieser Richtung angedeutet.
"Dann bringe ich dich nach Warn." Er lächelte. "Wenn nötig, auch über das Meer dahinter. Wohin du willst."
Sie nickte. Kam er ihr gerade näher? Leuchteten seine Augen, wenn auch nur ganz schwach? Schnell blinzelte sie, aber der Schimmer war verschwunden. Wieder nickte sie. Es war nur Einbildung. "Darf ich dir eine andere Frage stellen?"
"Sicher. Aber erzwing keine Antwort."
"Maia hat da etwas erwähnt, darum werde ich wohl keine Antwort bekommen." Sie wandte kurz den Blick ab. "Wer hat dein Herz damals gebrochen, Lorsan?"Die Antwort blieb er schuldig. Stattdessen richtete er sich mit unbewegter Mine wieder auf und murmelte: "Rosa."
Im gleichen Moment waren die Schritte von zwei Personen zu hören und Rosa gefolgt von Chavez, beide mit bunten Stoffen in Händen, kamen in den Warteraum zurück. "Zeit für die Anprobe, meine Lieben. Das wird lustig." Die Kämpferin grinste und brachte Anavi in die Umkleide von zuvor. Die Stoffe legte sie auf dem bereitstehenden Hocker ab und deutet darauf. "Welche Farbe gefällt dir am besten? Huch, hast du geweint?"
"Nein, alles gut." Sie zwang sich zu einem Lächeln und musterte die Stoffe. Alle waren in sehr grellen Farben gehalten, leuchteten und einige glitzerten. "Das helle Blau sieht schön aus. Oder das lila?"
"Darum gibt es die Anprobe. Raus aus dem Kleid und probieren." Anavi nickte und öffnete das Kleid. Wenigstens war es kein Experiment, wie das Nachtkleid, dass Rosalie ihr gegeben hatte. Nur schien das die Mode des Landes zu sein, genau wie traditionelle Tanzkleider. Sorge um den Schnitt machte sie sich doch."Einmal blau." Rosalie zog die hellblaue Stoffbahn hervor, legte sie einmal um Anavis Körper und wickelte noch zweimal nach. Einen Schnitt gab es nicht. Es war einfach nur der Stoff, der locker um den Oberkörper geschlungen wurde und anschließend mit silbernen Kordeln befestigt. Weil der untere Teil über den Boden schleifte, befestige Rosalie noch zwei weitere der Kordeln, die den Rock so rafften, dass er nur noch knapp über den Knöcheln endete. Jetzt konnte sie auch verstehen, warum die Kleider ausgeliehen werden konnten. Mit wenigen Handgriffen war die Kleidung zu erkennen.
"Ganz hübsch. Aber irgendwie... hm..." Rosalie umrundete Anavi einmal, dann noch einmal. "Das muss sich ein Experte ansehen. Herr Chavez?"
"Schon hier. Zeit für einen Vergleich." Anavi wurde aus der Umkleide geschubst. Jetzt machte sie sich nur noch Sorgen darum, ob sie ohne Schuhe in dem Kleid laufen sollte. Chavez wartete bereits vor der Umkleide, neben ihn Lorsan in einer ähnlichen Kleidung. Eine Art lange Jacke in dunklem Grün, bis über die Knie, darunter ein einfaches, weißes Hemd."Ich finde, Anavi sieht besser aus als ich." Lorsan zupfte an seinem Kragen. Ein silberner Gürtel verschloss die Jacke. "Und wieso soll gerade diese Farbe zu mir passen?"
"Es passt zu deinen Augen, Brüderchen." Rosalie kicherte. "Ich finde du siehst wie ein Einheimischer aus. Was denkst du, Anavi?"
"Grün... passt. Finde ich auch." Die helle Haut wirkte blasser im Kontrast zur Kleidung, der Gürtel schwächte es jedoch ab. Es gab ihr das Gefühl, der Heiler wurde leuchten, nur der Stoff verhinderte, dass man geblendet wurde. Es ließ sie einen Moment an die Silhouette in ihrem Traum denken.
Sie sah an sich herunter. "Kann ich das andere noch probieren? Das blau passt weniger zu grün, oder?"
"Nein, das ist perfekt." Chavez ließ ihre Pläne nicht zu, trat zu ihr und zupfte noch an ein paar Stellen der Stoff gerade. "Blau und Grün. Himmel und Wald. Ihr seht beide hinreißend aus, denkt ja nichts anderes."Lorsan seufzte, ein Lächeln konnte er jedoch nicht verbergen. "Gut, dann ist es entschieden. Können wir dann mit der Besichtigung weitermachen, Rosa?"
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...