"Ihr habt meinen Mann getötet! Bastarde! Pack!"
Die Frau tobte schon die ganze Zeit, die sie den Reitern durch den Wald folgten und obwohl gesagt wurde, dass sie es überhören sollten, konnte Anavi es nicht. Auch Lorsans Griff um ihre Hand verfestigte sich immer wieder.
Die Pferde hatten sie nicht geholt. Wie der Heiler leise erklärt hatte, waren sie mit den Wölfen in Sicherheit geflüchtet. Die Taschen und Sattel hatten sie ihnen für die Nacht gelassen, womit nur ein paar Decken verloren waren."Das war... eine Falle... für uns..." Es wurde zu Anavis leisen Mantra, nachdem sie die Worte das erste Mal gehört hatte.
"Alles in Ordnung, die Dame?" Der Reiter Most sah auf sie herunter. Ob es wirklich Sorge war, die in seinem Blick lag, konnte sie nicht sagen. Der Mann war ihr unheimlich. Er hatte die Frau ohne zu zögern zu den Pferden gezerrt und an einen der Sättel gebunden.
"Most. Wechsel." Der Anführer der Gruppe ließ sich zurückfallen und tauschte den Platz mit Most. Seine Miene schien freundlicher. "Ihr könnt beide von Glück reden, unverletzt entkommen zu sein. Diese Bande macht uns schon seit einer Weile Probleme. Sie locken mit falschen Hilferufen Jäger und einige Reisende von den Wegen. Getrennt von großen Gruppen werden sie überwältigt und... verschwinden."
"Wohin verschwinden sie? Warn?" Wieder verkrafte sich Lorsans Hand, damit war das unwahrscheinlich. Man brachte sie wohl eher weiter in den Westen, in das namenlose Land.
"Das wissen wir nicht. Vielleicht haben sie einen Weg über die Berge gefunden und schleusen sie über Mida. Oder..." Der Reiter schüttelte den Kopf. "Mein Name ist Lorik, falls ihr noch Fragen habt. Ich bin der offizielle Leibwächter der Prinzessin." Er lächelte gequält. "Also, wenn sie das nötig hätte."
"Lorsan. Ich bin Heiler. Und das ist Anavi, meine Assistentin." Lorsan deutete erst auf sich, dann sie, wobei sich der Blick des Reiters veränderte.
"Ein Heiler. Und dann ein so ungewöhnlicher Name. Sagt, woher stammt ihr beide?"
"Wir kommen aus Mida. Ich... bin auf der Suche nach meinen Wurzeln." Lorsan griff sich an die Brust. Unter seiner Kleidung ruhte unverändert die silberne Kette.Lorik nickte und sah nach vorn. "Lorsan... aus Jona... nach Mida..." Er schüttelte den Kopf. "Das ist sicher ein Zufall, aber einst trug unser Prinz diesen Namen."
"Ihr habt recht. Bestimmt nur Zufall. Ich habe auch Informationen, dass vor etwa zwanzig Jahren mehr Kinder verschwunden sind."
"Ja, aus königstreuen Adelsfamilien." Lorik seufzte und strich sich uber den schwarzen Bartansatz. "Es gab damals einen Aufstand, jedes Kind kennt diese Geschichte. Eine der königsnahen Familien wollte den Thron erobern. Tief in der Nacht, wurde die Burg angegriffen, Kämpfe entbrannten an allen Ecken. Einer der Angreifer drang weiter vor, bis in das Zimmer der Zwillinge. Unser Prinz verschwand in dieser Nacht und viele Wächter verloren ihre Leben. Die Drahtzieher wurden aufgespürt, nach dem Prinzen gesucht, doch es gab keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Das Versteck, in das man ihn bringen wollte, war verlassen." Er schüttelte den Kopf. "Seit die Prinzessin laufen konnte, wollte sie kämpfen. Sie wollte stark werden, um ihren Bruder zu suchen." Er sah wieder vom Pferd herunter. "Und dabei fällt mir eine gewisse Ähnlichkeit zwischen euch auf.""Ihr irrt Euch." Lorsan wandte den Blick ab. "Ich bin sicher kein verlorener Prinz. Nur ein Heiler auf Reisen. Aber ich hatte Zugriff auf ein Adelsregister. Ein Prinz war in der Königsfamilie von Jona nie aufgeführt. Es gab lediglich eine Aufzeichnung über Prinzessin... Sylvana oder... Sylvina..."
Anavi bezweifelte stark, dass er den Namen nicht mehr wusste. Er merkte sich sonst jede Kleinigkeit.
Lorik sprang jedoch auf seine Unsicherheit an und erzählte munter weiter: "Sylvana ist korrekt. Tochter von König Peruk und Königin Luvia. Und, wenn ich bescheiden angeben darf, bin ich ebenfalls mit ihr verwandt. Aber ohne Thronanspruch. Den hat meine Familie vor zwei Generationen aufgegeben. Kennt ihr zumindest die Geschichte des Landes?"
"Ich weiß, dass es einen Götterkrieg gab und die Flüsse so entstanden sind. Aber mehr ist mir über die Geschichte Jonas noch nicht bekannt."
"Das war... nicht ganz gelogen. Aber welcher Teil..." Lorik zupfte sich ein Blatt von einem der Bäume, gleichzeitig zog Anavi an Lorsans Ärmel. "Magier erkennen Lügen, weißt du das nicht?"
"Schon." Lorsan lächelte. "Ich war mir nur nicht ganz sicher." Dann wandte er sich wieder zurück an den Leibwächter: "Entschuldigt bitte, ich wollte testen, ob ihr Magier seid. Natürlich kenne ich einen Teil der Geschichte. Der Silberwald soll zum Beispiel von einem verzweifelten Propheten erschaffen worden sein. Sein Name war Otis.""Richtig. Jona war der erste König, Otis der Prophet des Mondgottes. Er lehrte uns mit Wölfen zu jagen. Als jedoch sein Geliebter bei einer Jagd schwer verletzt wurde, nutzte Otis seine Magie, um ihn zu retten. Erfolglos. Stattdessen verbrauchte er seine ganze Lebenskraft und starb an seiner Seite. Der Wald entstand aus dieser Magie, daher gibt es kein Welken, obwohl der Schnee seinen Weg hierher findet." Stolz erzählte der Reiter die Geschichte, die mehr an ein Märchen erinnerte oder eine Legende. Anavi war jedoch die letzte, die ihn belehren würde. Rosalies Geschichte von der Schlange hatte sie auch nicht weiter hinterfragt. Nicht, dass ihr schöne Geschichten nicht gefielen.
"Dann war Otis sicher ein mächtiger Heiler." Sie dachte an die Magie des Dorfheiler Arus. "Wenn er einen Wald erschafft."
Wieder drückte Lorsan ihre Hand, kürzer jedoch als noch zuvor. "Nein, es war keine Magie, um den Wald zu erschaffen. Er wollte lediglich die Verletzungen heilen. Doch keiner Zauber wirkte und sie alle drangen in den Boden ein. So wuchs der Wald. Otis heilte das Land."
Lorik nickte und fügte an: "Und jetzt warten wir auf den nächsten Heiler. Oh, da ist schon das Lager. Die Unterhaltung sollten wir vertagen."
Hinter den letzten Bäumen erhoben sich drei lange Holzbauten, dazwischen waren bereits erste Soldaten mit Pferden und Wagen zu sehen. Nun würden sie also die Prinzessin des Landes treffen...
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...