5 - Verdacht

3 1 0
                                    

Die Tage vergingen nur langsam. Denken fiel Anavi schwer, jede Bewegung erschöpfte sie schnell. Maia und der Heiler versorgten sie mit kräftiger Brühe, Brot und Wasser.
Immer öfter konnte sie wach bleiben. Sie wachte auch regelmäßiger auf.
Einmal hatte sie ein Buch entdeckt, das neben ihrem Krankenbett lag. Heimlich hatte sie es geöffnet und die Geschichte darin gelesen. Jedoch nicht lange. Sie hatte Schritte vor der Tür gehört, es eilig weggelegt und die Augen geschlossen.
Sie wusste zwar nicht, woher sie lesen konnte, aber ihr Gefühl riet ihr, es niemandem zu verraten. Mit Sicherheit hatte es etwas mit ihrer verschwundenen Vergangenheit zu tun.

Manchmal wachte sie auch einfach auf und regte sich nicht. Lieber lauschte sie den leisen Gesprächen ihrer Pfleger. So hatte sie den Namen des Heilers erfahren und Maias Aufgabe als seine Gehilfin.

"Hast du eine Arbeit für sie?", fragte Lorsan, während Anavi die Augen geschlossen hielt. Er saß im Nebenraum zum Krankenzimmer, die Verbindungstür war geöffnet.
"Wie es scheint, ist der Palast überbelegt. Ich kann sie nicht mal an die Küche verweisen. Es gibt jetzt schon kaum Arbeit." Maia klang nachdenklich. "Die einzig verfügbare Arbeit wäre es, wenn sie mir helfen würde."

Ein Moment des Schweigens. "Ich möchte das in deine Hände geben, aber du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn ständig jemand in meiner Nähe ist."
"Natürlich weiß ich das. Immerhin habe ich dir beigebracht, wie man kocht, nachdem keiner mehr in deine Nähe wollte." Maia kicherte. "Nicht, dass das deine klügste Entscheidung war."
"Ich war gerade zehn und wollte meine Ruhe. Lass die Leute ihre Gerüchte ruhig weiterverbreiten, wenn ich dadurch nicht ständig gestört werde." Lorsan seufzte. "Kannst du ihre Aufgaben so legen, dass sie nicht ständig in meiner Nähe ist? Dann kann sie für dich arbeiten. Ich übernehme auch die Bezahlung."

"Aber sicher doch." Die Frau klatschte in die Hände. So laut und plötzlich, dass Anavi ertappt zusammenzuckte und nur in Richtung Tür linste. Es kam aber niemand in den Raum.
"Aber warum du sie nicht in deiner Nähe willst? Sie ist so ein hübsches Mädchen."
"Damit hat es nichts zu tun." Der Heiler seufzte. "Wie lange kennen wir uns schon, Maia? Du weißt am besten, warum ich Menschen meide."
"Und Feste, Bälle, Empfänge, das Abendessen...", führte Maia weiter. "Ja, ich weiß es. Aber vielleicht ändert es sich eines Tages." Sie kicherte. "Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgeben."

Anavi drehte den Kopf zur Seite und sah zur Wand, gegenüber der Tür. Die Gespräche waren aufschlussreich. Sie erfuhr einiges über das Leben im Palast, über den Tratsch der Diener. In der Stadt unter dem Palast schien es hingegen gefährlich zu sein. Menschenhändler holten sich die Leute von den Straßen - selbst in den Adelsvierteln verschwanden regelmäßig Personen.
Daher galt der Palast als sicher und wurde von Anfragen nach Arbeit nur so überhäuft. Auch Anavi erkannte die bessere Möglichkeit darin, wenn sie für Lorsan arbeitete. Ihre einzige Wahl, um im Palast zu bleiben.

"Du hattest doch auch nach einer Anstellung gesucht? Was hättest du ihr geboten?" Anavi horchte wieder auf und drehte den Kopf. Es schien wieder spannend zu werden.
"Es gibt da einen Gastwirt in der Mittelstadt. Er sucht immer nach Hilfe. Ich hätte sie dorthin vermittelt. Die Bezahlung ist gut und die Gäste anständig."
"Anständig?" Maia klang irritiert. "Willst du damit etwas bestimmtes sagen?"

"Leider ja." Das Rascheln von Papier drang ins Krankenzimmer. "Ich habe sie mehrfach untersucht und du hast es doch auch gesehen. Die Narben sind zwar kaum zu sehen, aber nicht unsichtbar. Außerdem lag sie an der Grenze zu Warn. Das Wasser kommt von dort, also sie wohl auch."
"Sie könnte in den Fluss gestürzt sein? Und hat dadurch ihr Gedächtnis verloren?"
"Gestürzt oder gestoßen." Lorsan senkte die Stimme. "Aber sie scheint keine der üblichen zu sein, die hier herkommen. Man hat sie offenbar besser behandelt, wenn auch nicht wesentlich. Entweder sie wurden ihr überdrüssig, oder sie hat die Flucht gewagt. Nahe der Grenze gibt es eine Klippe über dem Fluss. Wenn sie von dort gestürzt ist, versucht hat sich zu schützen, dann erklärt das ihre einseitige Verletzung."
"Das arme Ding. Dann ist es wohl besser ihre Erinnerung bleibt fort."

Anavi blinzelte ihre brennenden Augen fort. Sie verstand nicht viel, aber es genügte. Sie wusste auch noch nicht viel über die anderen Länder, aber Maia hatte sie bereits in ihrer ersten Unterhaltung vor dem Land im Westen gewarnt.
Sklaven sollen sie dort halten, geraubt aus anderen Ländern. Wie von dem Mann, den der Heiler verfolgt hatte als er sie fand.
Also war es ihr wohl auch so ergangen. Und sie musste der rothaarigen Gehilfin zustimmen. Mit diesem Wissen wollte sie ihre Erinnerungen nicht zurück. Niemals.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt