12 - Der Schneider

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Staunend sah Anavi sich um. Hohe, steinerne Häuser reihten sich aneinander. Auf der Hauptstraße reihten sich im Erdgeschoss die Geschäfte aneinander, klar erkennbar durch die Auslagen in den großen Schaufenstern. Einfache Haushaltswaren wurden neben teurem Schmuck angeboten. Schneider und Schreiner lagen nur eine Wand entfernt. Dazwischen befand sich immer wieder ein Stand, an dem Essen verkauft wurde, weit genug von Gaststätten entfernt.

"Die Handelsstraße.", erklärte Lorsan und lenkte das Pferd an den Rand der Straße, wo auch in regelmäßigen Abständen öffentliche Ställe zu finden waren. "Hier findet man alles, was man braucht. In Mengen für den Gebrauch oder Weiterverkauf." Er hielt auf den nächsten der Ställe zu und hielt Donner an.
"Brauchst du Hilfe?", fragte er als sie sich gerade vom Pferderücken hangelte, sich die letzte kurze Distanz aber einfach fallen ließ und sicher landete. Er folgte ihr und bat um einen Moment Wartezeit.

Ein älterer Mann hatte die beiden Ankömmlinge jedoch schon bemerkt und kam aus der Stallung heraus. Lorsan gab Donner in die Obhut des Mannes, zusammen mit einigen Münzen, dann reichte er Anavi wieder die Hand. "Es ist recht sicher hier. Trotzdem solltest du nicht allein durch die Läden gehen."
Die Frau nahm die Hand an und ließ sich in die Menge führen. Schnell erkannte sie auch, was der Heiler damit meinte. Was schien, als wäre die Straße gut besucht, entpuppte sich als mehrere Händler und Kunden, stets unterwegs in größeren Gruppen. Bei einigen erkannte sie sogar kurz das Aufblitzen von Metall.

"Söldner. Sie schützen ihre Auftraggeber." In Lorsans Stimme war seine Nervosität nicht zu überhören, als er ihre Frage dazu beantwortete. "Hier sind zwar noch nicht viele Leute verschwunden, aber die Menschenfänger haben bereits ein Auge darauf. Jemand, der für seinen adligen Herren Einkäufe erledigt und nicht zurückkehrt wird nicht gesucht."
"Ich verstehe. Was sollte Warn auch mit reichen Händlern wollen? Die können nicht arbeiten."
"Richtig." Lorsan zog sie näher an sich, während sie auf ein Haus an der Seite zuhielten. "Warn nutzt die Leute für die Landwirtschaft. Ein Händler ist nichts dafür. Ein Hausmädchen ist belastbarer. Und unauffälliger."
Im nächsten Moment schob er die Tür ihres Ziels auf und sofort umgab Anavi ein schwerer Duft von Parfümen. Sie hustete und hörte Lorsan lachen. "Das wird gleich besser.", versprach er leise und trat weiter in den Verkaufsraum.

Anavi sah sich um, atmen fiel ihr jedoch noch schwer. An den Wänden waren Regale aufgestellt, darin gelagert Stoffballen. Alles war ordentlich nach Farbe und Stoff sortiert. Über einigen der Regale war das Material ausgeschrieben, einige sogar mit der Bezeichnung der Herkunft. Von der Seide aus Ming hatte sie schon gehört. Lorsan besaß einige Kleidungsstücke aus dem leichten, aber robusten Material.
Auch einige fertige Kleider hatten ihren Weg in den Raum gefunden, jedoch zu opulent für ihren Geschmack. Ausladende Reifröcke aus schwerem Tuch, glitzernde Ketten aus Gold und Silber. Sogar ein schneeweißes, ausladendes Hochzeitskleid samt Schleier und Schärpe, Schmuck und einem passenden paar Schuhe. Eine hölzerne Kleiderpuppe war darunter zu erkennen.

"Ich komme sofort.", flötete eine Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens, angetrennt durch noch mehr Regale mit Stoff.
"Lass dir Zeit.", antwortete Lorsan und ließ seine Finger über einige Felle streichen. Schneewolf aus Jona, verriet das zugehörige Schild.
"Lorsan! Wir schön dich wieder zu bedienen." Ein Mann eilte nach vorn, die hölzernen Absätze seiner Schuhe schlugen regelmäßig auf den Steinboden. Sofort fiel er dem Heiler um den Hals, der die Umarmung erwiderte. "So viel Zeit ist leider doch nicht.", kürzte er das Wiedersehen ab und löste sich wieder. Mit einer kurzen Handbewegung lenkte er die Aufmerksamkeit auf Anavi. "Das ist Anavi. Sie begleitet mich auf Prinz Respens Ball und braucht dringend ein Kleid. Und wer könnte da besser helfen als der berühmte Chevez."

"Oh, was eine Aufgabe." Chevez wandte sich an die junge Frau und musterte sie schnell. Im gleichen Tempo versuchte sie ihn einzuschätzen. Er hatte ein schmales Gesicht, umrahmt von hellroten Locken. Das auffälligste an ihm waren neben den hohen Schuhen, die dunkle Lederhose, gehalten von einem Gürtel mit Schneidermaterial und die violette Weste über dem weißen Hemd.
"Hm... wir brauchen eine Farbe. Kräftig? Nein, besser eine Abstufung, sonst wirkt sie so blass. Wie wäre es..."
"Entschuldige zu unterbrechen, Chevez, aber ich habe noch einen Termin." Lorsan legte die Hand auf die Schulter des Schneiders. "Ich lasse euch beide allein und hole Anavi später wieder ab."
"Huh? Na gut. Ich passe gut auf die Dame auf. Aber du versprichst dir nachher noch meine neue Ware anzusehen."
"Versprochen." Lorsan lachte und ging wieder zur Tür. Bevor er sie öffnete, drehte er sich jedoch noch einmal um. "Bleib hier, auch wenn ich noch nicht zurück bin. Es sollte nicht länger dauern als sonst."

Dann verließ er den Laden und ließ Anavi und Chevez allein. Zeit, über etwas nachzudenken blieb ihr jedoch nicht, da der Schneider bereits neben ihr stand, das Maßband in der Hand.
"Nehmen wir erstmal deine Maße, Liebes. Ich habe schon einen Schnitt und ein paar Farben im Kopf. Du wirst umwerfend aussehen."
"Umwerfend ist zu viel. Lorsan hat nocht vor lange zu bleiben.", erklärte sie schnell und folgte ihm hinter ein weiteres Regal, wo eine Plattform wartete, auf die er sie navigierte.

"Oh, ich weiß das. Es ist aber kein Grund nicht allen die Show zu stehlen. Arme ausbreiten bitte."
Schnell vermaß Chevez sie, notierte alles in ein kleines Buch, strich manches wieder durch und schrieb etwas anderes daneben. "Ein Stil...", murmelte er. "Woher kommst du, Liebes? Von hier?"
"Ich weiß nicht." Anavi schluckte. Chevez schien ein Freund von Lorsan, aber sollte er von ihrer Vergangenheit wissen? Wie sie in die Dienste des Heilers gekommen war? Aber vielleicht war es wichtig. "Ich erinnere mich nicht. Lorsan hat mich gefunden, verarztet und mir Arbeit gegeben."

"Ich verstehe, Liebes. Hm... aber was sagst du, wenn man dich auf dem Ball fragt?"
"Lorsan meinte, ich soll aus Sora kommen. Weil niemand wirklich etwas über das Land weiß." Ein unbekanntes Land musste eine passende Erklärung für die fehlenden Informationen sein.
"Sora. Soso." Chevez lachte. "Das macht es einfach." Sofort schrieb er wieder etwas auf, zog ein paar Linien auf eine andere Seite des Buches. "Wir brauchen etwas, das ich darf nichts über meine Kultur und mein Land verraten sagt. Zum Glück stehst du hier mit einem Sora-Experten. Also leichte Stoffe, am besten Ming und Mida. Dieser Schnitt... hier ein paar Bänder... da ein Übergang in einen anderen Ton. Hm... ja, das ist perfekt."
Er wirbelte zu Anavi um. "Das wird ein zauberhaftes Kleid. Die Königin würde vor Neid erblassen." Chevez kicherte. "Aber nur, wenn sie es sehen könnte. Komm, die Stoffe tragen sich nicht von selbst. Und ich muss noch den Entwurf zeichnen..."

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt