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Sie saß in dem großen Raum, wagte es nicht sich umzusehen. Wie lange war sie schon an diesem Ort? Seit dem Besuch beim Heiler waren sicher schon Wochen vergangen. Vielleicht Monate.
"Sieh mich an." Artig hob sie den Kopf und sah in die Augen des Schattenmannes. War das rot etwas wärmer geworden? "Ab sofort beginnt deine Ausbildung. Wer dich sieht, darf sich auf nichts anderes mehr konzentrieren." Er deutete auf die in Schatten gehüllte Frau neben sich. "Sie wird dich unterrichten und dir wird nichts geschehen, solange du unter meinem Schutz stehst."
Er wandte sich an die Frau. "Ich gebe dir ein Jahr, dann rufe ich sie zu mir. Lass sie auf den Festen üben. Jeder kennt die Anweisung."
Der Blick lag wieder auf Anavi. "Wenn du dich gut machst, wirst du belohnt. Wenn du nutzlos bist, verlässt du diese Mauern und stirbst."
Anavi nickte und sah zu der Frau. Ein Lächeln drang durch die Schatten. "Lass mich sehen, was du kannst. Da können wir ansetzen."

Sie sagte zu sich, es sei nicht ihre Erinnerung und zwang sich aufzuwachen. Im Zimmer war es dunkel, doch regungslos ruhte Lorsans Arm um ihre Taille. Flieder umgab sie und wog sie in Sicherheit. Die ruhige Atmung des Heilers hielt sie im Hier.
Vorsichtig drehte sie sich um und lächelte in die Dunkelheit. Sie hob die Hand und strich sanft über seine Wange. Etwas, das einfache Dankbarkeit für ihre Rettung überschritt, zog sie an. Ein Gefühl, im einfach nahe sein zu müssen.
"Adi..." Es war ein Flüstern, das ihr Herz stocken ließ. "Warum, Adi..."
"Ich bin nicht Adi." Sie strich über seine Lippen. "Ich bin Anavi. Wovon träumst du?"
"Adi..." Seine Finger verkrampften sich an ihrem Rücken. "Warum..."
"Lorsan... Wach auf!" Anavi wollte die Hand von sich schieben, doch der Heiler nutzte den Moment der Nähe. Er packte ihr Handgelenk, riss es hoch und drückte sie in die Kissen.
"Wehr dich nicht!", knurrte der Mann über ihr, die golden leuchtenden Augen hielten sie in seinem Bann. "Wag es nicht, zu schreien. Er hört dich nicht. Du spielst nach meine Regeln, Spionin, nur danach. Verstanden Adi?"

Sie konnte sich nicht wehren. Stattdessen schloss sie die Augen, atmete tief ein und aus, bis der Flieder wieder die Finsternis dominierte. Bis das Gewicht auf ihrem Körper verschwand und ihm die Augen des Prinzen folgten. Es war ein Traum. Oder eine Erinnerung. Wohl Adis Erinnerung.
Anavi rückte näher an Lorsan heran. Ganz langsam hoben sich aus der Finsternis Schemen ab. Das Bett, Tisch und Stühle wurden klarer. Sie waren dunkler als die Dunkelheit um sie herum. Auch der Heiler hob sich ab, doch wirkte er heller. Wie ein Geist, der in der Finsternis wachte.
"Lorsan..." Wieder streichelte sie ihn. Solange sein Duft in der Luft lag, war es kein Traum. "Flieder..." Die Göttin hatte ihr die Blüte sicher aus einem Grund gegeben. Sie konnte ihr nur keine Frage stellen. Immernoch konnte sie kein Wort in den Erinnerungen sprechen. Sie musste mehr herausfinden und die richtigen Fragen stellen.
Eine Hand legte sie an seine Brust, dann schloss sie die Augen wieder. Sie brauchte einen Traum, auch wenn die Furcht tief saß.

Ein Fest tobte um sie herum. Die Männer und Frauen lachten, Anavi schenkte Wein aus. Alles war in Schatten gehüllt, lediglich Lady Mina war unter den Gästen zu erkennen. An ihrer Seite ein kleiner, schmaler Schatten.
"Die Gäste, Kleine.", erinnerte sie ihre Lehrerin und Anavi setzte ein falsches Lächeln auf. Tag um Tag hatte sie es geübt, sah den nächsten Mann verführerisch an, wurde jedoch weiter geschickt. Sie seufzte leise, fluchte innerlich. Erst nach der Hälfte ihrer Zeit hatte die Frau sie auf das erste Fest mitgenommen. Sie musste lernen, wiederholte sie. Sie konnte erst das Gelernte üben, wenn sie sicher auftrat.
"Nicht so schnell, Kleine." Der Schatten packte sie und zog sie auf seinen Schoß. "Du übst hier, nicht wahr? Auf Wunsch des Herrn."
Sie nickte und schmiegte sich an den Mann. Mit großen Augen sah sie ihn an, ihre Lippen suchten die weiche Haut an seinem Hals. Er schob seine Hand unter den kurzen Rock strich über ihre Mitte. Sie erschauderte. "Ich übe mit dir. Zeig mir, was du kannst." Wieder ein Nicken und sie drehte sich etwas, griff zu seiner Hose.
Ihre Lehre zahlte sich aus.

Wieder riss sie sich aus dem Traum los. Wurde die Besitzerin dieser Erinnerung tatsächlich zu soetwas ausgebildet? War ihre Lehre und ihre Mission am Ende dasselbe? Aber was konnte die Mission verhindert haben?
"Du träumst..." Anavi erschrak, als Lorsan sie unerwartet ansprach und näher zu sich zog. "Willst du mir davon erzählen?"
"Nur Erinnerungen. Von der Fremden." Sie wollte nicht, dass er von Adis Erinnerung erfuhr. Es fühlte sich nicht richtig an, ihm von Respens Angriff auf sie zu erzählen.
"

Ist das die Wahrheit?" Sie spürte seinen misstrauischen Blick. War er auch passiver Magie mächtig und konnte Lügen erkennen, so wie Faria und Rosalie es demonstriert hatten?
"Und ein neuer Traum. Mit Respen." Warum drängte sich der Prinz nur ständig zurück in ihre Träume? "Aber das... ist nicht wichtig, denke ich."
"Verstehe." Sie lag noch immer mit dem Gesicht zu ihm, doch nun waren keine Schatten mehr zu erkennen. Stattdessen streifte sie sein warmer Atem. "Du weißt, ich versuche dir damit zu helfen."
"Der Prinz kommt nicht hierher.", bestätigte sie sich und es beruhigte sie ein wenig, das zu glauben. Letzten Endes war er immer noch ein Prinz und konnte die Grenzen problemlos überqueren.

Sie spürte durch das Kissen, wie er nickte. "Tut er nicht. Schlaf weiter. Es bleiben noch ein paar lange Tage, bis zum Fest." Damit drückte er sie an sich, legte das Kinn auf ihren Kopf.
Mit einem letzten Lächeln auf den Lippen schloss sie die Augen und träumte die restliche Nacht nichts mehr.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt