74 -

1 0 0
                                    

"Was machst du denn schon hier?" Schnell bedeckte Anavi sich mit dem Handtuch, als Rosalie Lorsan entdeckte. Der Heiler saß bereits in der Quelle, das Gesicht zur Decke gerichtet, die Augen geschlossen.
"Warmes Wasser genießen. Und ihr?"
"Muskeln entspannen." Rosalie seufzte und kletterte in die Quelle.
Lorsan verharrte in seiner Position, bis auch Anavi im Wasser war. Dann sah er zu ihnen. "Ihr habt gut gekämpft. Aber das Schwert war zu schwer für Anavi. Natürlich ist sie dadurch nicht ausdauernd."
"Solltest du nicht Karten lesen, anstatt uns zu beobachten?" Die Blonde kicherte und kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. "Oder warst du neugierig? Hast deine Liebste beobachtet?"

"Es nennt sich Pause. Außerdem bist du wesentlich interessanter, Prinzessin." Er sollte dabei lachen, blieb jedoch ernst. Beinahe, als sei er nicht ganz anwesend.
"Beschäftigt dich etwas? Wegen der Reise?" Anavi schob sich ein Stück näher zu ihm.
"Ja. Nein." Er seufzte. "Es ist die Nachricht des Königs. Vielleicht ist es einfacher hier zu bleiben und sich Arbeit zu suchen."
"Klingt nach schlechten Nachrichten, Kleiner. Was schreibt der König?"
Lorsan schloss wieder die Augen. Seine Antwort überraschte: "Ich weiß nicht. Ich habe den Brief nicht geöffnet."

"Wie nicht geöffnet? Es könnte ein Hinweis auf deine Familie sein. Willst du es nicht mehr wissen?" Rosalie legte den Kopf fragend schief, worauf der Heiler den Kopf schüttelte.
"Das ist es nicht. Aber... wenn der König von Ming eine Information hat und diese auch noch stimmt, dann komme ich im schlimmsten Fall aus einer Adelsfamilie. Also wieder keine Freiheit. Kein selbstbestimmtes Leben. Und vielleicht... kann Anavi nicht bleiben."
"Du hast Angst vor einem goldenen Käfig." Rosalie nickte verstehend. "Das ist verständlich. Aber ist das ein Grund, die Suche aufzugeben? Du wirst es nie erfahren, wenn du bleibst. Und ich weiß, dass du schon immer nach deinen Wurzeln gesucht hast."

"Du... würdest es bereuen." Anavi nahm seine Hand. "Außerdem kannst du wieder weglaufen, wenn es dir nicht gefällt. Oder wenn sie mich nicht mögen." Sie versuchte ihn aufzumuntern. "Ich Zweifel sagst du, dass du nur eine Todesnachricht überbringen solltest. Als... letzter Wunsch?"
"Hm..." Er griff an die silberne Kette um seinen Hals. Der Anhänger lag nicht erkennbar unter Wasser. "Das ist keine schlechte Idee. Außerdem ist das schon zwanzig Jahre her. Niemand kann überprüfen, ob ich der bin, nach dem vielleicht gesucht wird. Aber erst möchte ich Rosas Hinweis folgen. Wenn sich nichts ergibt lese ich den Brief."

"Deine Sache." Rosalie grinste. "Themenwechsel: Was wollt ihr beide als Abschiedsgeschenke von mir?"
"Abschiedsgeschenke? Du meinst, neben der Kutsche voller magischer Ausrüstung?" Diesmal war es Lorsan, der den Kopf zur Seite lehnte. Ganz schmal und fast unsichtbar war dabei ein roter Streifen zu sehen. Nicht lang, nicht breit, aber im richtigen Licht.
"Ja, das ist kein Abschiedsgeschenk. Also? Wünsche?"
"Keine Wünsche. Also, von mir." Anavi sah weg von dem Kratzer und legte den Kopf an die Schulter des Heilers. Sie würde ihn später darauf ansprechen, erwartete jedoch keine Antwort.
"Bei mir auch nicht. Wir haben alles Nötige."
"Gar nichts? Aber das macht mich zur schlechten Gastgeberin..." Übertrieben gespielt schniefte die Generalin und wischte sich nicht existierende Tränen aus den Augen.
Der Heiler seufzte. "Gut. Die Erfahrungen, die wir dank dir sammeln konnten sind Geschenk genug, Rosa. Und wir sind doch noch ein paar Wochen da."
"Also... mehr Erfahrungen."
"Auch wenn du mich nicht zu einem offensiven Kämpfer machen kannst." Lorsan lachte. "Ausgelernt habe ich noch nicht."
Eilig nickte Rosalie und schloss die Augen. "Dann überlege ich mir gleich ein paar Übungen. Mal sehen. Definitiv Distanzwaffen. Und Kampf vom Pferd. Und..."

"Das hat sie mit dir sicher auch vor. Tut mir leid.", flüsterte der Heiler und lehnte sich dazu näher zu Anavi. Diese kicherte leise. Ihr Herz schlug schnell. "Das hatte sie sowieso vor. Am Schwert bin ich nicht zu gebrauchen."
"Mag sein." Er ließ ihre Hand los, mit der er zuvor die Finger verschränkt hatte. "Aber eine Reise durch Jona ist nicht ungefährlich. Es wäre wohl leicher, nach Warn zu gehen."
"Du warst noch nicht dort. Haben dir das die Karten verraten?"
"Auch." Nachdenklich hob er die Hand und strich eine ihrer Haarsträhnen glatt. "Im Norden ist es kalt und unwirtlich. Es finden sich verstreut größere Ansiedlungen, allein ist es in den verschneiten Wäldern gefährlich. Die größte Siedlung ist ihre Hauptstadt, weit oben an den Schneebergen. Kleinere Dörfer gibt es noch nahe der Grenze zu Ming, die zu Mida ist nur mit verlassenen Jagdhütten gesäumt. Über die Mittberge zu Mida führen sowieso nur sehr gefährliche, unbefestigte Bergpfade. Und weil so viel Land unerschlossen ist, besitzt Jona noch seine ursprüngliche wilde Natur. Und dazwischen Menschenfänger, nur keine aus Warn."

"Nicht aus Warn?" Verständlich, wenn sie seiner Beschreibung folgte. Wie sollten die Gefangenen auch unbemerkt über drei Grenzen gebracht werden. Das Risiko war zu hoch. "Also... Fänger aus Jona."
"Nein. Zwischen Jona und Warn liegt ein weiteres Land an der Grenze Midas, hinter den Mittbergen im Nordwesten. Das schwarze Land, ein Land, in dem das Licht nicht durch den ewigen Nebel dringt. Berg und Sora zusammen, sind nicht so gefährlich wie dieses Gebiet."
"Das... ist ein Märchen. Richtig?" Jetzt raste ihr Herz aus Angst. Konnte es ein solches Land unter den Augen der Götter überhaupt geben? Durfte es das?
"Nein nein. Das ist wahr." Das Kerzenlicht flackerte, als sich nun auch Rosalie einmischte. Dunkler Nebel kroch über den Boden. "Das schwarze, namenlose Land. Niemand der es betreten hat, hat es wieder verlassen. Der Totengott selbst, soll dort residieren, der Nebel sind die Seelen der Toten."

"Ich... glaube dir nicht. Das sind nur... Gerüchte." Unsicher drückte sie sich nun doch an der Heiler. Im Moment war es ihr egal, ob sie nackt in der Quelle saßen. Sie hatten sich schon gesehen. Mehrfach. "Du... hast keine Beweise."
"Sicher? Warum ist meine Magie dann Nebel, der die Toten auferstehen lässt?"

"Das reicht jetzt, Rosa. Du übertreibst wieder." Lorsan strich ihr beruhigend über den Rücken. "Ich gebe Aufzeichnungen wieder, du erzählst Geistergeschichten. Und Anavi hat schon genug mit ihren Träumen zu kämpfen."
"Aber das war lustig." Der dunkle Nebel vermischte sich mit dem Wasserdampf, Rosalie schob schmollend die Lippe vor. "Du verstehst keinen Spaß."
"Das war gemein. Besonders der Nebel." Langsam beruhigte sich Anavis Herz und die Wärme des Wassers vertrieb die unheimliche Kälte wieder aus ihren Knochen. "Das schien so... überzeugend."
"Das macht eine Geistergeschichte doch aus."
Lorsan schüttelte den Kopf und schlug im Gegenzug einen Kompromiss vor: "Vielleicht mal in einer anderen Umgebung. So, dass wir uns vorbereiten können."
"Also... ein Abend mit Geistergeschichten und Geisterbeschwörung?" Die Augen der Blonden schienen vor Begeisterung zu glitzern. "Das klingt gut. Wie wäre es kurz vor eurer Abreise? Dann mache ich das zum offiziellen Abschiedsgeschenk."
"Besser." Der Heiler nickte, wobei in Anavi die Frage aufkam, wie man sich auf so etwas vorbereiten sollte.
Rosalie sprang beinahe aus dem Wasser und rannte aus dem Raum, laut rufend: "Gut, ich fange mit den Vorbereitungen an. Bis zum Essen." Danach schlug die Tür zu.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt