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Ein leises Klopfen weckte sie aus dunklen, nach Rauch riechenden Träumen. Nur war es diesmal nicht Rosalie, die vor den Flammen floh, sondern sie selbst. Beobachten musste sie alles tatenlos von außen, konnte nur auf die Szene sehen, wie durch ein Fenster. Stumme Schreie drangen nicht auf die andere Seite.
 "Anavi?" Wieder klopfte es und sie setzte sich langsam auf. Sie lag immer noch wie vorher auf dem Bett, nur wurde es bereits merklich dunkler. Hatte sie den ganzen Tag verschlafen? 
"Bin wach. Komm rein." Sie rieb sich den Schlaf aus den verquollenen Augen. Hatte sie geweint? Hatte sie Rosalies Geschichte so sehr mitgenommen?

Auf dem weichen Teppich lautlos trat Lorsan ein und ging zu ihr. Stumm setzte er sich neben sie auf das Bett, mied jedoch jeden Blick.
"Wenn es nicht meine Erinnerungen sein müssen...", begann sie leise. "Heißt das, jemand hat das wirklich erlebt? All diese... Qualen?"
"Vermutlich." Er sah sie immer noch nicht an. "Was mich noch interessiert ist aber, ob du diese Gabe bereits vorher hattest. Ob jemand in Warn das wusste und du fliehen musstest - oder man versucht hat dich zu töten."
"Eine gute Frage." Sie wollte nicht daran denken. An nichts davon. War sie sich nicht einmal sicher, ihre Erinnerungen nicht zurück zu wollen? "Es wird dunkel, oder? War ich den ganzen Tag hier?"

"Zumindest hast du eine spannende Diskussion über Ricimer verpasst." Sie konnte sein lachen hören und sah auf. "Und um Respen ging es auch."
"Was Rosalie macht, wenn sie Königin ist?"
"Auch. Vor allem aber, was für eine schreckliche Erziehung die beiden haben. Keiner von ihnen kennt Grenzen." Die Fröhlichkeit verschwand ganz plötzlich. "Er hat nichts getan um Rosas Mutter zu schützen. Stattdessen hat er sie jagen lassen. Er wollte sie zurück und es war egal wie." Er reichte ihr ein Stück Papier. Es war bereits vergilbt und eingerissen an den Seiten. "Rosas Mutter. Damit wurde nach ihr gesucht."

Es zeigte die Tintenzeichnung einer jungen Frau, sie sah Rosalie ähnlich und durfte in einem ähnlichen Alter sein. Darunter waren Merkmale aufgelistet, die sie beschrieben. Und in einer anderen Schrift, kleiner am unteren Rand, dass sie mit einem Kind reiste. Ein Mädchen, das der König unversehrt verlangte. Von der Mutter erwartete er das nicht mehr. Dieser Teil war durchgestrichen.
"Sie sehen sich ähnlich. Hat sie das aufgehoben? All die Jahre?"
Lorsan nickte langsam. "Um sich zu erinnern. Also, das ist nicht ihres, sondern meines. Ach, und um das Thema zu wechseln: das hat vorhin ein Bote abgegeben. Die Organisation ist gut vernetzt." Er reichte ihr ein weiteres Blatt, so groß wie das erste doch neuer. Es bildete Lorsan ab und daneben eine wage Skizze von ihr.
"Sucht Respen nach uns? Jetzt schon?"
"Leider." Er seufzte. "Ich hatte gehofft, wir hätten mehr Vorsprung. Aber das Gute ist, dass sie bisher nur in Mida verbreitet sind. Laut Bote verhindert das Königshaus von Ming, dass sie sich hier verbreiten. Außerdem denken ja alle, du würdest dich in der Stadt verstecken. Und ich habe öfter fallen lassen, dass ich mich irgendwann in eine Hütte im Wald zurückziehen will. Jäger haben also genug zu tun."
"Aber... warum nach uns beiden? Hat der Prinz einen Verdacht?" Die Zeichnung ähnelte ihr wirklich nur grob, das konnte andere Frauen in Gefahr bringen.

"Ich nehme an, er ist wütend, weil du ihm entkommen bist. Deine Freundin wurde außerdem bereits aus dem Palast gebracht. Es gab wohl einen Vorfall nach dem sie verdächtigt wurde eine Spionin Warns zu sein. Sie wurde in Sicherheit gebracht, bevor sie den Zwillingen in die Hände fallen konnte."
"Oder Respen..." Sie zitterte beim Gedanken an den Prinzen und ließ abwesend die Blätter fallen. Sie spürte noch immer die kalten Hände auf ihrer Haut, seine Magie in ihrem Kopf, das Pulver auf ihrer Haut.
"Er erreicht dich nicht. Nicht hier." Vorsichtig zog der Heiler sie in eine Umarmung, darauf bedacht los zu lassen, falls sie sich wehrte, die Nähe nicht ertrug.
Aber sie ließ es geschehen, drückte sich ihrerseits an ihn und atmete tief den Fliederduft ein. Ihr Herz wurde ruhiger und das Zittern verschwand.

"In drei Tagen beginnt das Fest.", erinnerte er leise. "Möchtest du noch gehen?"
"Ja. Immerhin hat Rosalie viel für uns organisiert. Aber... lass mich nicht wieder allein, ja?" Zu lebhaft war die Erinnerung an den Ball. "Selbst wenn ein Prinz auftaucht."
"Dann verteidige ich dich. Das mit dem Ball... damals... nichts davon hatte ich erwartet. Niemand hatte das. Ich hätte dich gerne vor der Begegnung mit ihm geschützt."
Sie nickte. "Wer erwartet schon, dass ein Prinz mit einer Sklavin tanzt?"
"Hm... da bin ich mir nicht mehr so sicher."
Überrascht hob sie den Kopf ein Stück. "Was?"
Lorsan sah sie ernst an. "Deine Herkunft. Du stammst unstreitig aus Warn. Nur... ich bin mir nicht mehr sicher, was du dort warst. Sklaven sind wesentlich schlimmer zugerichtet, wenn sie fliehen. Du hattest ein paar Kratzer und ansonsten gut verheilte Narben. Na, und die gebrochenen Knochen, aber die können vom Sturz in den Fluss gekommen sein. Jemand hat sich um dich gekümmert und gut behandelt. Zumindest besser als andere, die ich bei ähnlicher... Aufgabe vermute."
"So wie die, aus meinem Traum?"
Er nickte. "Die Narben sind auch schon älter. Du hast sie dir vermutlich als Kind zugezogen. Ab einer bestimmten Zeit kamen keine neuen dazu." Vorsichtig strich er ihr über den Rücken. "Ich glaube, dass du für irgendjemanden oder irgendetwas wichtig warst. Vielleicht bist du es noch. Sagte Lady Mina nicht, man hätte dich auf einen Prinzen angesetzt?"
"Sie hat es vermutet." Dieser Frau wollte sie nicht ein zweites Mal begegnen. "Aber auch, dass die Mission doch nicht durchgeführt werden sollte."
"Siehst du. Ich glaube du solltest eine Art Spionin sein. Aber etwas ist schief gelaufen. Du hast dein Gedächtnis verloren, aber davon weiß bestenfalls keiner. Dass du niemanden kennst könnte auch ein Teil deiner Tarnung sein."

"Das klingt... zu verworren." Wenigstens hatte er sie erfolgreich von Respen abgelenkt. Und den Plakaten. "Trotzdem danke. Wenn es wirklich nicht meine Erinnerungen sind, dann beruhigt es mich etwas." Sie hob den Kopf und platzierte einen kleinen Kuss an seinem Kinn. "Aber es wird spät."
"Dann störe ich deine Ruhe nicht länger." Er sah zum Fenster. Die Sonne war vollständig verschwunden. "Kein Abendessen leider. Rosa prügelt schon seit Mittag auf die Trainingspuppen ein und da will sich ihr niemand nähern. Also ist wohl auch nichts geplant."
"Schon gut." Sie zupfte am Hemd des Heilers und lehnte den Kopf an seine Brust. Es dürfte das vom Morgen sein. "Ich brauche nicht viel. Aber... kannst du noch bleiben? Ich hatte Träume und... möchte nicht allein bleiben."
"Erinnerungen?"
Anavi schüttelte den Kopf. Unter ihrem Ohr hörte sie das Herz des Heilers. "Nur Feuer. Und Dunkelheit. Und ich beobachte alles, wie durch ein Fenster."

"Wenn du dich sicherer fühlst, dann bleibe ich. Aber erst ziehe ich mich um. Und du auch." Er lächelte und stand auf. "Bin gleich zurück."

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt