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"Und hier befindet sich die rote Brücke. Sie bildet den einzigen Eingang zum Palastberg, der künstlich aufgeschüttet wurde, als die Stadt detailgetreu verlegt wurde." Rosalie klopfte auf das dicke, rot bemalte Holz der geschwungenen Brücke. "Es soll Glück bringen, wenn man hier einen Silberdraht um die Sprossen wickelt, aber einmal im Monat werden alle Drähte entfernt." Trotzdem wanden sich bereits neue Drähte um die Sprossen des Geländers. Der Weg der Brücke selbst war aus Stein. In kaum sichtbaren Fugen verschwand Wasser, das aus dem knapp darunter liegenden Fluss spritzte.

"Spannend." Lorsans Begeisterung hielt sich seit der dritten Brücke in Grenzen. Es war ihm auch anzusehen. Stattdessen beobachtete er unauffällig die Umgebung, als suche er nach etwas. "Aber es gibt sicher mehr zu sehen als kunstvolle Brücken."
"Na hör mal! Herib war immerhin die Stadt der Brücken. Natürlich mussten hier die Kanäle künstlich angelegt werden, aber das macht die Stadt nunmal aus."
Anavi konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Sie war schon zu lange unterwegs und zu Fuß durch die Straßen im Schachbrettmuster gelaufen. Selbst die Häuser unterschieden sich nur durch Bemalungen voneinander. "Lorsan hat schon recht. Brücken sind sicher auch interessant, wenn man selbst welche bauen will, nur wir sind das erste Mal hier."

"Hach, ihr seid mir welche." Rosalie schüttelte den Kopf. "Aber gut, dann keine Brücken mehr. Was haltet ihr von Fruchtwein und Abendessen?"
"Ich nenne es eine Abwechslung." Lorsans Blick strahlte stumme Dankbarkeit aus. "Es wird auch schon spät."
"Ausreden...", murmelte Rosalie und brachte zurück zwischen die Häuser. Genauso wie der Himmel dunkler wurde entzündeten die ersten Geschäfte und auch Wohnhäuser kleine Lampen vor den Türen. Sie gingen nicht weit, trotzdem veränderte sich schnell die Atmosphäre. Es wurde dunkler, aber nicht gefährlicher. Die Lampen verbreiteten viel Licht, manche waren auch mit buntem Papier verkleidet und tauchten die Umgebung in warme Farben.

"Das ist schön. Wird das jeden Abend gemacht?" Anavi beobachtete fasziniert, wie ein älterer Mann eine der Lampen erhellte. Dafür ließ er kleine Lichtpunkte von seinen Fingern ins Innere schweben. Die leuchtenden Augen enttarnten ihn als Magier.
"Ja. Manche nutzen einfache Flammen, andere die Lichtmagie." Rosalie nahm ihre Hand. "Im Gegensatz zu Mida sind Magier hier ein Teil der Gesellschaft. Sie sind sogar sehr hoch angesehen und ihre Dienste sind teuer. Aber viele davon nutzen ihre Magie um den Leuten zu helfen. Ohne Gegenleistung." Der Mann verabschiedete sich von dem Besitzer des Lokals und ging weiter zum nächsten, wo er erneut die Lichtpunkte einsetzte. Trotz des langen, weißen Barts und Haars bewegte er sich noch leicht durch die Straßen.

"Kennst du viele Magier? Und wie erkennt man eigentlich, ob jemand die Begabung dazu hat?"
"Einige." Die Kämpferin nickte eifrig. "In unserer Palastwache sind mehrere Magier vertreten. Die wilden Stämme suchen ihre Anführer auch nach der Begabung der Magie aus. Sogar zwei unserer Prinzen sind selbst Magier. Aber wie man es feststellt kann ich dir nicht genau sagen. Wenn nicht gerade jemand seine Magie ausbrechen lässt, dann gibt es wohl Übungen. Magier erwecken dabei wohl ihre Magie."
"Erinnerst du dich noch, was ich über Faria erzählt habe? Dass ihre Familien Magier bei uns verstoßen? Ihre Magie ist damals aus ihr heraus gebrochen. Das Haus ihrer Familie wurde so heiß, dass es Feuer gefangen hat. Danach musste sie fliehen und endete bei ihrem Zuhälter." Lorsan beobachtete die Umgebung. "Wäre sie in Ming aufgewachsen, hätte sie vielleicht jemand unterrichten können."
"Stimmt. Aber dafür hat Faria jetzt eine wichtige Position innerhalb der Nachteule. Sie koordiniert sämtliche Einsätze innerhalb Midas."

"Magie ist auf jeden Fall interessant." An die dunkle Schönheit wollte Anavi lieber nicht denken. Ihr Herz wurde wieder schwer dabei, aber sie hatte die Entscheidung getroffen, Lorsan zu begleiten. Es war allein ihre Entscheidung, ihre Freunde zurück zu lassen. Wobei ihr noch eine Frage in den Sinn kam: "Wird man eigentlich zufällig ein Magier?"
"Manchmal." Lorsan griff nach ihrer noch freien Hand. Sie lief zwischen den Geschwistern und fühlte sich sicher. "Meistens ist aber mindestens ein Elternteil selbst magisch begabt."
"Genau. Und Ricimer ist es nicht." Rosalie setzte plötzlich eine finstere Mine auf. "Also war meine Mutter magisch. Oder ich hatte Glück."

Überrascht sah Anavi zu der Kriegerin auf. "Du bist auch Magierin? Was kannst du?"
Rosalie lächelte finster, fast dämonisch verzog sie das Gesicht zu einem Grinsen. "Schlachten gewinnen. Ich sorge dafür, dass meine Soldaten weiterkämpfen." Sie hob die Hand und ließ schwarz-grünen Nebel über ihren Fingern erscheinen. Nur ihre Augen wurden dabei dunkler, anstatt zu leuchten.
"Das ist keine Heilkunst." Lorsan zog sie ein Stück näher zu sich. "Rosa lässt die Gefallenen wieder aufstehen und weiterkämpfen. Nicht nur eine seltene sondern sogar eine einzigartige Magie, wenn ich mich richtig erinnere."
"Hast recht." Der Nebel verschwand und nichts erinnerte an die eben noch geradezu bösartige Seite der blonden Frau. "Die Magie ist auch nicht wirklich zu mehr nutze. Vor allem, da sie nur eine Stunde anhält, danach brauche ich das zehnfache an Schlaf und Essen. Aber der Feind bekommt zumindest Angst und ich musste die Stunde noch nicht oft ausreizen."

"Das ist so unglaublich." Ihre Augen mussten auch schon vor Begeisterung leuchten. "Bisher habe ich ja nur zweimal Magie gesehen. Nein, dreimal. Und zweimal wollte man mich damit umbringen." Der Prinz wollte sie nicht töten, oder?
"Einmal.", korrigierte der Heiler. "Der Magier beim Überfall wollte dich gefangennehmen. Und Faria wollte dich wahrscheinlich auch nicht ernsthaft verletzen. Und Respen..."
"Ja, davon hattest du geschrieben. Der Strohkopf ist Magier." Rosalies Blick wurde wieder dunkel. "Unglaublich, dass vielleicht doch Ricimer die Quelle sein soll."
"Nicht Ricimer. Die Königin beherrscht Magie. Aber außer mir weiß das niemand." Warnend sah Lorsan die beiden Frauen an. "Und von euch erfährt es auch keiner."
"Auch nicht unter Folter.", versprach Rosalie lachend, jedoch sehr ernsthaft. Anavi nickte als Versprechen, wurde dabei jedoch abgelenkt und sah sich um. Die Menschen standen jedoch zu dicht, um eine bestimmte Person auszumachen.

"Anavi?" Scherze und Sorgen waren vergessen als Lorsan hielt und ihrem Blick folgte.
"Ich glaube, ich werde beobachtet." Sie drückte unsicher kurz seine Hand. "Aber... da ist niemand. Ich habe mich bestimmt nur getäuscht."
"Es ist gut, vorsichtig zu sein." Rosalie suchte ebenfalls die Menge ab. "Vielleicht hat er es bemerkt und ist untergetaucht. Sag sofort, falls das wieder passiert."
"Natürlich. Sofort." Sie nickte eifrig.
"Gut." Die Kriegerin nickte zu einem Laden mit zwei offenen Wänden. Dahinter befanden sich lange Tische um eine Feuerstelle. "Unser Ziel. Zeit für etwas Nahrhaftes. Das werdet ihr sicher mögen. Und nebenbei kann ich euch noch mehr über unsere Brücken erzählen."
Dabei war sie so froh, keine Brücken mehr zu sehen.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt