22 - Gold

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"Fertig!" Anavi strich sich den Rock glatt, der bis zu den Knöcheln reichte und zupfte nochmal an den Ärmeln. Das Kleid war dünn und leicht, es saß perfekt und würde sie nicht behindern. Im Zweifel konnte sie darin sogar schnell wegrennen, wobei ihr auch die dünnen, flachen Schuhe zugute kamen. Passend zum Kleid aus goldenem Stoff mit silbernen Ranken und einer festen Ledersohle.

"Lass mal sehen.", bat Chevez vor dem Vorhang und sie atmete tief ein und aus, bevor sie zu ihm trat. Er dirigierte sie auf ein kleines Podest, auf dem zuvor die Kleiderpuppe stand, besah sie von allen Seiten und zupfte noch ein paar Falten glatt, dann nickte er. "Zauberhaft. Sagte ich es nicht?"
"Schon. Nur..." Sie sah in den Spiegel. Es überraschte sie wie gut die gewählten Farben mit ihrer dunkleren Haut harmonierte. Wenn Chevez aus Sora stammte, dann konnte man damit sicher auch bei ihr auf eine Verbindung zu dem abgeschotteten Land schließen.
Trotzdem fand sie, dass es zu viel Haut zeigte. Ihr Zopf hing ihr über die Schulter. Wenigstens etwas, das ihre Blöße bedeckte. "Es ist etwas... freizügig, finde ich."

"Freizügig, pah. Das ist perfekt. Eine traditionelle soranische Abendtracht. Mit ein paar Anpassungen für fremde Augen. Das Oberteil ist länger und alles weniger durchscheinend." Chevez trat hinter sie, schnappte sich den Zopf und löste das Band, das ihn hielt. "Das habe ich aus den Erfahrungen meiner Landsfrauen gelernt. Eine Schande die Schönheit einzusperren." Mit geübten Handgriffen fächerte er das Haar auf und band lediglich zwei Strähnen von rechts und links nach hinten. Diese verflocht er mit einer weiteren über dem sonst unbehandelt offenen Haar. "Lorsan soll dir bei den Haaren helfen. Er hat sehr talentierte Hände. Und so können wir dich endlich präsentieren."

Unsicher über die fremdländische Kleidung nickte sie brav und ließ sich von Chevez zurück in den Verkaufsraum führen.
Lorsan wartete bereits, sein Interesse hatte er jedoch noch auf verschiedene Stoffe in den Regalen gelenkt.
"Hier hin stellen und kurz warten.", bat Chevez mit einem Augenzwinkern und stellte sie auf eine weitere Erhöhung, davor zog er eine Leinwand. Anavi meinte sich zu erinnern, dass auf dem mannshohen Rahmen das Gemälde einer Landschaft und einer Stadt prangte.

"Lorsan. Wir sind fertig. Bereit?", hörte sie ihn rufen und kurz darauf einen zweiten Schatten vor die Leinwand treten.
"Natürlich. Ich bin gespannt."
"Oh, du wirst sprachlos sein. Es ist zauberhaft, fantastisch. Es ist..."
"Chevez..."
"Jaja, natürlich. Lächeln, Anavi-Liebes. Zeit für die Enthüllung."
Er zog die Leinwand schnell weg und offenbarte sie Lorsans Blick, der tatsächlich sprachlos war und sie eine Weile nur anstarrte. So musste sie auch ausgesehen haben, als sie die Kleiderpuppe gesehen hatte.

"Das ist... perfekt." Es dauerte einen Moment, bis der Heiler die Stille brach, wandte den Blick jedoch ab. "Gute Arbeit, Chevez. Auf dich ist Verlass."
"Mehr hast du nicht zu sagen?" Chevez stellte sich vor Lorsan und lehnte sich ein Stück nach vorn. Durch die gleiche Größe der beiden näherte er sich gefährlich seinem Gesicht. "Perfekt und gute Arbeit höre ich von allen. Du solltest schon mehr Worte finden, Liebling."

"Hast Recht." Lorsan trat lächelnd einen Schritt zurück. "Nur fehlen mir bei diesem Werk die Worte. Ich denke, eine passende Beschreibung wurde noch nicht gefunden." Er sah zu Anavi zurück die unter seinem Blick schnell die Arme vor den freien Bauch schlang. "Du siehst zauberhaft aus, Anavi. Alle werden dich sehen wollen. Auch, wenn das eigentlich nicht der Plan war."
Sie schüttelte eilig den Kopf. "Du wolltest unauffällig sein... Vielleicht nimmst du doch Maia mit?"
"Das ist doch nicht schlimm." Er trat auf die junge Frau zu und nahm ihre Hand. Vorsichtig führte er sie vom Podest in den Raum. "Sie werden dich sehen und am nächsten Tag fragen, wohin du verschwunden bist. Sie sehen dich mit mir und werden eine Geschichte erzählen." In einer fließenden Bewegung drehte er sie unter seinem Arm. "Und das gibt ein wundervolles Gerücht für mich."

"Ah..." Sie hatte keine Worte und wandte verlegen den Blick ab. Einen Abend musste sie die Blicke der Gäste ertragen, dann konnte das Kleid für alle Zeit verschwinden. "Damit... kann ich leben."

"Hach, ein traumhaftes Paar, ihr beiden." Chevez hatte sie ganz vergessen. Nun, da der Schneider sich wieder bemerkbar machte trat sie schnell einen Schritt von Lorsan weg. Die Nähe und der Fliederduft, der ihn selbst im parfümgeschwängerten Laden umgab machten sie nervös. Ihr Herz raste mehr als im Moment der Angst in der Gasse.
"Ich bin froh, dass ihr gerade mich ausgesucht habt, Schätzchen. Gut, dann auf zum geschäftlichen." Der Schneider klatschte einmal in die Hände und zauberte ein Blatt aus seiner Gürteltasche. "Material, Zeit, Sonderpreis für langjährige Kunden, Aufschlag wegen Festwoche... Hier die Rechnung."

Freudestrahlend reichte er Lorsan das Papier. Der sah es kurz an, seufzte und nickte. "Ich zahle. Wir nehmen es gleich mit. Aber du läufst mir so nicht durch die Straßen." Der Heiler sah sie besorgt an und auch Chevez nickte eifrig. "Viel zu gefährlich, Liebes. Zieh' dich um, ich packe dann schnell noch alles ein."
Während Anavi zurück hinter die Regale ging, wo ihr Kleid wartete, sah sie noch kurz, wie ein kleiner Beutel Münzen den Besitzer wechselte. Sie bezweifelte jedoch stark, dass der Heiler ihr den Preis für das Kleid verraten würde.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt