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Eine gebogenen Holzbrücke mit goldenem Anstrich führte über den schmalen Bach vor dem Anwesen. Einen Moment blieb Anavi in sicherer Entfernung stehen und betrachtete das imposante Gebäude im Licht der wandernden Sonne. Goldene Muster auf weißem Grund schmückten das Haus, dunkle Fenster bildeten einen starken Kontrast und ließen es edler wirken, als der umgebende Wald vermuten ließ.
Das Anwesen stand tatsächlich inmitten eines sichtbar künstlich angelegten Waldes, den steinerne Wege und gestutzte Hecken verrieten. Es überraschte sie nicht, dass auch Sun und Sur in diesem Moment zwischen den Bäumen hervorpreschten und auf Lorsan zuhielten.
"Guten Morgen." Sie riss sich vom Anblick ihrer Unterkunft los und streichelte Sun, die aufgeregt um ihre Beine strich. "Wie war eure Nacht so?"

Der Wolf stupste sie an, was sie fast das Gleichgewicht verlieren, aber auch lachen ließ.
"Ich denke, ihre Nacht war gut." Lorsan wuschelte Sur durch das Fell am Kopf, der drückte sich schnell an sein Bein. "Wollt ihr uns begleiten oder nur verabschieden?"
Der Wolf fiepte und schüttelte den Kopf. Schnell rannte er wieder zurück in den Wald, Sun folgte ihm ohne zu zögern.
"Haben die beiden was gefunden? Ich dachte eigentlich nicht, dass noch Gärtner bei der Arbeit sind." Rosalie sah ihnen besorgt nach.
"Nichts gefunden. Sie wollten uns nur erinnern, dass sie noch da sind." Der Heiler lachte. "Aber Gärtner abzuziehen war wohl eine gute Entscheidung. Nicht jeder bleibt ruhig, wenn ein riesiger Wolf vor ihm steht. Und dann noch einer."
"Die haben frei, solange ihr bleibt." Sie zuckte mit den Schultern. "Natürlich bei voller Bezahlung. Dafür freuen sie sich umso mehr, wenn sie danach wieder alles auf Vordermann bringen dürfen."
"Wie lange dauert der Winter denn?" Anavi fiel ein, dass sie in Mida keinen Wechsel der Jahreszeiten gespürt hatte. Und auch auf ihre Erinnerungen war dabei kein Verlass.
"In Jona mehrere Monate. Im Moment ist dort kein Durchkommen über die Wege und viele Dörfer sind erst in den wärmeren Monaten wieder bereit, Reisende aufzunehmen. Aber auch der Höhepunkt ist bald erreicht und die Stürme klingen ab." Rosalie sah in den Himmel, dann zu Anavi. "Zwei Monate, vielleicht ein halber mehr. Es muss schwer sein, sein Gedächtnis so zu verlieren. Du wusstest wirklich nichts mehr, außer deinem Namen."
"Mein Name. Wie man spricht. Die grundlegenden Wörter und Regeln. Aber sonst..." Sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß nichts. Nicht einmal, wie lang ein Winter dauert."
"Du armes Ding." Viel zu schnell hatte Rosalie sie in die Arme geschlossen und an sich gedrückt. Eschrocken wollte sie zurückweichen, kam jedoch nicht mehr los. Hilfesuchend wollte sie zu Lorsan sehen, ihre Sichtfeld wurde jedoch von Rosalies dunklem Mantel eingeschränkt.

"Sie fühlt sich unwohl." Die Stimme des Heilers drang nur gedämpft zu ihr. "Vermutlich wegen deiner Andeutung, als du uns abgefangen hast."
"Huch." Rosalie gab sie frei, was Anavi die Möglichkeit bot schnell zwei Schritte nach hinten zu treten. "Das hatte ich vergessen." Sie kicherte und warf den Kopf in den Nacken. "Ich hoffe doch, dass sie das irgendwann überwindet. Anavi?"
"Irgendwann...", murmelte sie und sah zum Wald. Die Wölfe waren sicher schon nicht mehr in der Nähe. "Wolltest du uns nicht etwas zeigen?"

"Richtig." Rosalie klatschte in die Hände, als wäre ihr gerade etwas eingefallen und nahm Anavis Hand. Sie zog die Jüngere schnell mit sich, Lorsan folgte ihnen, und führte die beiden weiter durch den Wald, bis sie an eine gepflasterte Straße gelangten.
Auf der anderen Seite befand sich kein Wald mehr. Stattdessen kleine Häuser, in denen geschäftiges Treiben herrschte. Rosalie hob die Hand und winkte jemandem dort zu. "Hier lebt mein Personal mit der Familie. Einige davon arbeiten auch in der Stadt. So müssen sie kein Geld für die Unterkunft ausgeben."

Interessiert beobachtete Anavi das Treiben auf der anderen Seite, als das Klappern von beschlagenen Hufen über den Stein erklang. Ihm folgte ein Gespann von zwei grauen Pferden vor einer kleinen, braunen Kutsche. Der Kutscher hielt vor ihnen und nickte wortlos zur Begrüßung.
"Bitte einsteigen, werte Gäste." Rosalie kicherte und kletterte in das Gefährt. "Die Stadt ist doch noch ein Stück entfernt und wir sollten nicht laufen müssen."

Während Lorsan seiner Schwester kopfschüttelnd folgte betrachtete Anavi noch unsicher die kleine Konstruktion. Sie erschien ihr zerbrechlich und abgenutzt. Die beiden Räder waren zwar mit Eisen beschlagenen, trotzdem zweifelte sie an der Stabilität.
"Anavi?" Sie sah auf. Der Heiler hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Einstieg zu helfen. "Geht es dir gut?" Er schien ihren Blick gelesen zu haben. "Die Kutsche ist stabil, keine Sorge. Das Holz lässt sie älter aussehen, aber sie ist gut gepflegt."
"Sicher?" Woher kam nur ihre Angst vor der Kutsche? Bis jetzt war sie in noch keiner Erinnerung mit so etwas in Berührung gekommen. Selbst Rosalies Fröhlichkeit war verschwunden. Sorge war in ihrer Miene zu erkennen.
"Natürlich. Wir passen auch gut auf dich auf."

Sie nickte, schluckte ihre Angst hinunter und ließ sich beim Einstieg helfen. Vielleicht hatte ihre Angst keinen Hintergrund und es waren doch nur die Sorgen um das Material.
Im Inneren wackelte die Kutsche auch nur leicht, als sie sich auf ein weiches Polster sinken ließ, das über die Bänke gelegt war.
Als die Kutsche jedoch anfuhr gab es einen Ruck, der Anavi nach der Hand des Heilers greifen ließ. Rosalies unklaren Blick versuchte sie dabei zu ignorieren.
"Fühlst du dich nicht wohl?" Lorsan sprach leise. "Wir können das sicher auch verschieben."
"Schon gut." Sie hörte ihre Stimme selbst kaum. "Mir..." Schwindel erfasste sie. Fremde Bilder erschienen vor ihr ohne Zusammenhang. Trockenes Holz, Rauch, Feuerschein. "Lorsan..." Sie packte seine Hand fester. Es war ein Anker, während sie in die Bilder tauchte.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt